Heiliger Geist

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Wolfram Kopfermann

Das Wirken des Heiligen Geistes: Wort und Kraft

 

  1. Der Gott der Bibel offenbart sich durch sein Wort. Dies gilt bereits für die Erzväter (vgl. 1 Mose 12ff.) und für die Mosezeit (vgl. 2 Mose 3-4; 2 Mose 6). Nirgends hat allerdings das Ergehen des Gotteswortes eine so grundlegende Bedeutung im AT wie bei den Propheten, die ihre Botschaft oft mit den Worten „So spricht der Herr“ einleiten. Sie erfahren Gott fast ausschließlich im Wort (Amos 3,8; Jeremia 1,9; 15,19; 18,18; 23,28-29; 28,13 u.ö.). Niemals sehen sie Bilder, ohne dass Gott ihnen deren Deutung im Wort schenkt (keine Vision ohne Audition). Andere Offenbarungsweisen wie der Traum verlieren an Bedeutung oder werden vom Wort her kritisiert (Jeremia 23,28 ff; vgl. 4 Mose 12,6-8; 5 Mose 13). Was schon für das AT gilt, ist erst recht für das NT wahr. Auch wenn Jesu Wirken nicht denkbar ist ohne seine Zeichen und Wunder, so steht im innersten Zentrum seines offenbarenden Handelns das Wort. Entsprechendes muss von dem Wirken der nachösterlichen Gemeinde gesagt werden.
  2. Der Vater Jesu Christi handelt generell durch sein wirksames Wort (1 Mose 1; Psalm 33,9; Psalm 107,20; Joh 1,3: 2 Kor 4,6; Hebr 4,12-13; 11,3; 1 Petrus 1,23; Jakobus 1,18).
  3. Im NT wird nicht nur bezeugt, dass Jesus Christus das Wort Gottes sprach bzw. spricht, sondern dass er in Person Gottes Wort ist (Joh 1,14; Hehr 1,2).
  4. Der Ausdruck „Wort Gottes“ bzw. „das Wort“ bezieht sich im NT aber nicht nur auf bestimmte Sätze, die Gott gesprochen bat, auch nicht nur auf Jesus als Person, sondern auch auf die Verkündigung Jesu bzw. der Apostel (Markus 2,2; 4,14-20.33; Lukas 5,1; 8,11; 11,28; Apg 4,4; 4,31; 6,2; 6,4; 6,7; 8,4; 8,14; 10,44; 1r,1; 11,19; 13,5; 13,7; 13,44; 13,46; 16,32; 17,11; 18,5; 18,11; 19,20; 20,7). –
  5. Der Heilige Geist ist beides, Person und Kraft, d.h. wirkende Macht. Diese Macht wirkt nicht neben dem Wort oder zusätzlich zum Wort oder in Ergänzung zum Wort oder vor dem Wort oder nach ihm, sondern im Wort bzw. durch das Wort.
  6. Das Wort Gottes ist in sich selber geisterfüllt, geistgeladen (Jesaja 55,10-11;Joh 6,63; Röm 1,16; 1 Kor 1,18). Wer sich ihm aussetzt, bekommt es folglich mit dem Heiligen Geist zu tun.
  7. Obwohl das Wort Gottes in sich selber geisterfüllt ist, sind wir berechtigt, ja, werden wir eingeladen zu bitten, dass Gott es uns durch den Heiligen Geist erschließt (Eph 1,17-18 u.ö.).
  8. Indem wir um den Heiligen Geist beten, bitten wir darum, dass uns das Wort „einleuchtet“ und seine Wirkung an uns ausübt. Indem wir um „mehr vom Heiligen Geist“ beten, bitten wir darum, dass das Wort schneller, tiefer und umfassender an und in Menschen wirkt.
  9. Der Heilige Geist lenkt unsere Aufmerksamkeit niemals auf sich selber. Er richtet unsere Blicke, d.h. unser gläubiges Interesse, auf Jesus Christus, wie er uns im Wort begegnet (Joh 14,26; 15,26; 16,14).
  10. Der Heilige Geist kommuniziert nicht mit unserer Seele oder unserem Körper, sondern mit unserem Geist (Römer 8,16; 1 Kor 2,9-16), er ist nicht in unsere Seele oder unseren Leib, sondern in unsere Herzen gesandt (Gal 4,6).
  11. Das Wirken des Heiligen Geistes kann von körperlichen Empfindungen und Erlebnissen begleitet sein (Wärme, Leichtigkeit, zu Boden stürzen, Lachen, Weinen etc.). Auf diese Weise wird klar, dass der Mensch ein Ganzes (Geist, Seele und Leib) ist und dass sich das „Innere“ schließlich im „Äußeren“ ausdrücken muss.
  12. Der Rückschluss von intensiven körperlichen Erlebnissen auf ein intensives Wirken des Heiligen Geistes ist unbiblisch. Körperliche Erlebnisse sind in sich selber mehrdeutig. Gottgeschenkte Vollmacht („Salbung“) lässt sich nicht eindeutig „spüren“, aufgrund einer bestimmten Atmosphäre erkennen oder an körperlichen Phänomenen ablesen. Sie hat nur ein Kriterium: dass tatsächlich im Leben von Menschen geschieht, was Gott will.

13 .Das NT ist nirgends an Erlebnissen mit dem Heiligen Geist, es ist durchgängig an den wahrnehmbaren Auswirkungen seines Handelns interessiert. Wir müssen scharf unterscheiden zwischen den (biblisch klar bezeugten) Manifestationen des Heiligen Geistes und den (biblisch nicht bezeugten, aber möglichen)  körperlichen Begleitphänomenen seines Wirkens.

  1. Körperliche Erlebnisse sind kein Selbstzweck. Körperliche Begleitphänomene des Geistwirkens generell ausschließen zu wollen oder sie grundsätzlich zu verteufeln, ist eine Form der Angst vor dem Heiligen Geist, also Unglaube.

Februar 1995

 

Wolfram Kopfermann

Frucht und Gaben des Heiligen Geistes

Das Neue Testament bezeugt, dass der Heilige Geist eine Vielzahl von Wir­kungen in der Gemeinde hervorbringt. Innerhalb dieser Fülle finden heute die „Gaben“ und die „Früchte“ des Geistes immer neu Beachtung. In dem folgenden Beitrag möchte ich die Gemeinsamkeiten und die Unterschie­de zwischen beiden geistlichen Mani­festationen bedenken.

Zunächst zur begrifflichen Klärung. Als Frucht des Geistes (Gal 5,22) bezeichnen wir das Ganze der Erneue­rung des Verhaltens, die der Heilige Geist im Leben des einzelnen bewirkt. Sie ist dem Bereich der persönlichen Heiligung zugeordnet. Als Gabe des Geistes (Charisma) bezeichnen wir je­de gottgegebene Befähigung, sofern sie durch den Geist Jesu Christi der Selbstverfügung entnommen und in den Dienst der Gemeinde gestellt worden ist.1) Wir sind überzeugt, dass eine engere begriffliche Fassung dem Neuen Testament nicht gerecht wird, dass aber umgekehrt viel beachtete Charismen wie Lehre, Leitung, Prophetie, Glossolalie, Krankenheilung sich dieser Begriffsklärung gut ein­fügen.

I Gemeinsamkeiten

1. Frucht und Gaben des Geistes sind gleich ursprünglich
Damit ist gemeint: Nach dem Neuen Testament baut weder die Frucht des Geistes, also die „charakterliche“ Lebenserneuerung, auf dem Vorhanden sein von Charismen auf, noch können Charismen erst verliehen werden, wenn vorher Frucht des Geistes sichtbar geworden ist. Vielmehr weist alles daraufhin, dass in urchristlicher Zeit von Anfang an Frucht und Gaben des Geistes nebeneinander in der Ge­ meinde wuchsen. Beide Manifestationen sind nach den vorliegenden Texten den Christen bereits für den Anfang ihres Glaubenslebens zugedacht, bei­de sollen sich danach organisch ent­falten. Sie wachsen aus einer ge­meinsamen Wurzel, dem Leben im Hei­ligen Geist, stellen aber unterschied­liche „Äste“ dar. Noch einmal: Keines von beiden ist auf das andere zurückzuführen. So ist es auch exegetisch schlechthin falsch, wenn immer wieder behauptet wird, die höchste Gnaden­gabe sei nach Paulus die Liebe. Der Apostel hat die Liebe niemals als Charisma bezeichnet.

 2. Frucht und Gaben des Geistes sind gleich wesentlich
Gemeint ist: Das Neue Testament be­zeugt den dringlichen Willen Gottes, beiden Wirkungen des Heiligen Geistes in der Gemeinde Raum zu verschaffen. Keine wird der anderen in dieser Hin­sicht nachgeordnet.

Gott legt Wert darauf, Frucht des Geistes im Leben der Gemeindeglieder zu entdecken! Die Frucht des Geistes (Gal 5,22) ist Auswirkung des Wan­dels im Geist (Gal 5,16), zu dem in apostolischer Autorität ermahnt wird. Wollten die Christen statt im Geist „im Fleisch“ wandeln, so dass sie die „Werke des Fleisches“ (Gal 5,19) hervorbrächten, so gälte ihnen die Ge­richtsankündigung, dass die, die solches tun, das Reich Gottes nicht ererben werden (Gal 5,21). Es geht bei der Frucht des Geistes also nicht um etwas Beliebiges, son­dern um jene Heiligung, ohne die nie­mand den Herrn schauen wird (Hebr 12,1-4).

Aber auch bei den Gaben des Geistes haben wir es keineswegs mit bloßen Möglichkeiten zu tun. Das wird u.a. daran deutlich, dass Paulus in 1Kor 12,28 zu Beginn eines Charismenkataloges, der vom Aposteldienst bis zum Charisma der Hilfeleistungen reicht, erklärt, Gott habe dies alles nicht nur in Korinth, sondern in der Kirche „eingesetzt“ (dasselbe griechische Verb steht in 1Kor 12,18). Gott will den Dienst der Charismen innerhalb des Leibes Christi!

3. Frucht und Gaben des Geistes sind Geschenk und Aufgabe zugleich
Dass es sich bei beiden um göttliche Geschenke handelt, ergibt sich be­reits aus dem Sprachgebrauch. Aus­drücklich stellt Paulus in Galater 5 den „Werken des Fleisches“, die wir voll­bringen, die „Frucht“ des Geistes gegenüber, die also durch Gott in uns gewirkt wird. Ähnlich, wenn es um die Gaben des Geistes geht: Der Be­griff “Charisma” geht auf das Grund­wort charis = Gnade zurück, und Gna­de meint ja Gottes Handeln für und an uns.

Dieser eindeutige Befund schließt jedoch nicht aus, dass es zugleich in unsere Verantwortung gestellt wird, nach der Frucht und den Gaben des Geistes zu trachten.

Zunächst wieder zur Frucht des Geistes. Wir hatten bereits unter I.2 gesehen, dass sie in Galater 5 als Auswirkung eines Wandels im Geist begegnet, zu dem sehr nachdrücklich aufgefordert wird. So erscheint etwa die Liebe einerseits als Frucht des Geistes, andererseits als Inhalt geistlicher Ermahnung, z .B. Römer 13 ,9. Hier ist der Sachverhalt klar.

Größere Schwierigkeiten bereitet die Frage, wie weit das Vorhandensein von Charismen ebenfalls in unsere Verantwortung gestellt ist. Häufig begeg­net man der Meinung, an dieser Stelle schenke Gott, wann und wie er es wolle; es sei geradezu anmaßend, nach bestimm­ten Charismen zu streben. Woher wisse man denn, was Gott vorhabe? Im Extremfall gilt das Streben nach Charismen als Flucht vor der Niedrigkeit des Kreuzes Jesu Christi.

Prüfen wir diese Behauptung am Neuen Testament, so ergibt sich ein wesentlich anderer Befund. Das verdeutlicht insbesondere der 1. Korintherbrief. Im Einleitungskapitel attestiert Paulus den Korinthern, sie hätten keinen Mangel an irgendeinem Charisma. (1,7). Dieser selben Gemeinde schreibt Paulus, sie solle um die Geistesgaben eifern. Der griechische Wortstamm, der an die­ser Stelle begegnet, ist uns aus dem Fremdwort „Zelot“ bekannt. Er hat hier die Bedeutung „eifrig streben, sich eifrig bemühen“ (Walter Bauer, Wörterbuch s.v.). Der bekannte Exeget Heinrich Schlier betont: „Eine Kirche ohne Charismen ist für Paulus eine ar­me Kirche. Man soll vielmehr um die Geistesgaben ‚eifern‘. Viermal mahnt der Apostel, selbst angesichts der durch ihren Enthusiasmus bedrohten Ge­meinde in Korinth, zu diesem Eifern, 1Kor 14,39; 12,31; 14,1.12. Es sei wenigstens eine Stelle zitiert:

„So sollt auch ihr, da ihr um den Geist eifert, darum bemüht sein, davon über­zuströmen zur Erbauung der Kirche.“
1Korinther 14,12

Zu diesem Eifern gehört auch und gewiss nicht zuletzt das Ge­bet um die Geistesgaben, vgl. 1Korinther 14,13.“2)

Noch einmal: Paulus stellt die Mit­verantwortung der Gemeindeglieder für das Vorhandensein von Charismen heraus, indem er dazu auffordert, nach ihnen zu eifern. Er leitet die Korinther (1Kor 12,31) sogar an, nach bestimm­ten Gnadengaben mehr als nach anderen zu streben. Und er macht 1Kor 14,13 deutlich, wie dieses Streben inhalt­lich zu geschehen hat: durch Gebet näm­lich. Die Gegenfrage lautet: Stehen diese Aufforderungen nicht im Wider­spruch zu 1Kor 12,11, wo es heißt, der Geist teile einem jeden mit, „wie er will“? Hans Conzelmann sagt zu dieser Stelle: Der Ausdruck „unterstreicht den frei­en Gnadencharakter der Begabung.“ Er schließt jedenfalls nach dem Zu­sammenhang der Kapitel 12­-14 konkretes Bitten um bestimmte Gaben für den Fall nicht aus, dass die ganze Gemeinde mit ihren geistlichen Bedürfnissen dabei im Blick bleibt! Hätte Paulus seine Aussage in 1Kor 12,11 so gemeint, dass ein Christ nur beten dürfe: „Herr, du weißt besser als jeder andere, was wir zur Zeit in der Gemeinde brauchen; bitte verleih uns das!“, so wären die Konkretionen in 1Kor 12,31; 1Kor 14,1; 1Kor 14,39 widersinnig.

4. Sowohl bei der Frucht als auch bei den Gaben des Geistes gibt es ein Wachstum
Dies ist uns im Blick auf die Frucht des Geistes wahrscheinlich sofort klar. Bereits das Wort „Frucht“ spricht für wachstümliche Prozesse. Hier gibt es also ein Mehr oder Weniger. 2Korinther 9,10 drückt direkt die Zuversicht aus, Gott werde die Früchte eurer Gerechtigkeit „wachsen“ lassen; 1Thessalonicher 3,12 wird die Bitte geäußert, die Thessalonicher möchten wachsen und reich werden in der Liebe; Philipper 1,9 betet Paulus darum, dass die Liebe dieser Gemeinde immer noch reicher an Einsicht und Verständnis wird.

Auch die Erfahrung scheint diese Be­obachtung zu bestätigen: Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in enger Ge­meinschaft     mit Jesus Christus gelebt haben, besitzen oft ein liebevolles und gütiges Wesen, wie es bei Anfängern im Glauben nicht gefunden wird.

Aber auch im Praktizieren von Charis­men gibt es ein Wachstum. Der pauli­nische Sprachgebrauch macht das viel­leicht auch dadurch deutlich, dass er sowohl in Römer 12 als auch 1Korinther 12 zwischen Bezeichnungen für Personen und Aussagen über charismatische Wirkungen wechselt. Worin besteht z.B. der Unterschied zwischen jemanden, der Prophet (1Kor 12,28) ist und anderen, die prophezeien (1Kor 14,1.24)? Offenbar verdient noch nicht jeder, dem das prophetische Charisma irgend­wie zuteil wurde, die Bezeichnung Prophet, sondern nur jemand, bei dem sich eine gewisse Stetigkeit und Dich­te der Begabung gezeigt hat. Ähnlich scheint es sich bei der Lehrbegabung zu verhalten: Ist einer bereits ein Lehrer (1Kor 12,28), wenn er die apostolische Ermahnung praktiziert: Lehrt … euch gegenseitig in aller Weisheit (Kol 3,16)!? Gibt es gradu­elle Übergänge zwischen geistlichen Diensten und geistlichen Ämtern, so setzt dies lebensgeschichtlich zum Teil ein Wachstum im Gebrauch des je­weiligen Charismas voraus.

Auch diese Erkenntnis wird durch die Erfahrung bestätigt. Ich wähle als Beispiel die Begabungen der geist­lichen Leitung, des Lehrens, der Krankenheilung, des Sprachengebetes und der Prophetie. Die drei erstge­nannten Charismen sind in gewissen An­sätzen bei jedem Gläubigen vorhanden. Was Lehre und Leitung angeht, so wird das wohl niemand bestreiten, der das Leben kleiner christlichen Gruppen, etwa im Bereich der Hauskreisarbeit, kennt. Aber auch für die Gnadengabe der Krankenheilung trifft entsprechen­des zu, wie bereits aus Markus 16,17f. hervorgeht, wo sehr allgemein den Glau­benden (Vers 17a) die Gabe zugespro­chen wird, Kranke durch Handauflegung zu heilen. Wir wissen, dass Menschen, die Gott im Dienst der Krankenheilung in besonderer Weise gebraucht hat, oft sehr klein und im Verborgenen begannen!

Auch beim Sprachengebet kann es, wie die Erfahrung zeigt, vorkommen, dass der Heilige Geist zunächst nur wenige Silben schenkt; erst im Gebrauch der Gabe erweitert sich der „Wortschatz“. Außerdem ist der Segen dieser Gabe für den einzelnen nicht unabhängig von der Häufigkeit des Gebrauches.

Manche empfinden es als Problem, dass es auch in der Handhabung der prophetischen Gabe Wachstumsprozesse geben soll. Es scheint zunächst, als könne eine Botschaft, die den Anspruch erhebt, von Gott zu kommen, nur ent­weder inspiriert oder aber rein mensch­lichen bzw. dämonischen Ursprungs sein. Hinter dieser Meinung steht, wie mir scheint, ein unbiblisches Menschen­bild: Wäre der Charismen praktizie­rende Christ ein sündloses Geschöpf, so dränge Gottes Reden in ungetrübter Klarheit durch. Prophetisches Reden vollzieht sich jedoch als göttliche Eingebung, die unsere nichtrationalen Persönlichkeitsschichten (etwa auch unsere Bilderwelt) „durchströmt“, ehe sie nach außen dringt. Es ist in jedem Falle von der Eigenart unserer Person mitgeprägt, wie schon ein Ver­gleich zwischen den prophetischen Worten des Amos mit denen des Hese­kiel ergibt (ob einer Viehzüchter ist oder einer priesterlichen Tradition entstammt, hat durchaus Einfluss auf die Gestalt der Prophetie). Für unsere Frage wichtiger ist, dass geistliche Reife, die Weite des Horizontes, der Stand der persönlichen Heiligung eine Rolle im Prozess der Weissagung spielen. Es kann sich folglich nicht darum handeln, prophetische Äußerungen so­lange zu verbieten, wie die Gefahr sündhafter Beimischungen besteht. Wir brauchen hier wie überall geistliche Übungsfelder. (Oder soll einer erst lehren dürfen, wenn zuvor gewährlei­stet ist, dass Irrlehre in jeder Form ausgeschlossen werden kann? Wo bräch­ten wir dann selbst die großen Kir­chenlehrer unter?) Wesentlich ist vielmehr die offene Prüfung propheti­scher Äußerungen: Nüchternheit be­schreibt die biblische Mitte zwischen angstvollem Meiden und kritikloser Übernahme aller als prophetisch aus­gegebenen Äußerungen!

5. Sowohl durch die Frucht als auch durch die Gaben des Geistes soll Jesus Christus verherrlicht werden
Was die Frucht des Geistes angeht, so muss unsere These wohl nicht mehr breit bewiesen werden. Frucht des Geistes gibt es nur „in Christus“; in ihr manifestiert sich das Auferste­hungsleben Jesu selber. Wo Agape zu­tage tritt, geschieht Gottes Liebes­wille „in dem Herrn“.

Es ist aber umstritten, ob das Trach­ten nach Charismen, die Betonung ihrer Wichtigkeit für das Leben der Gemeinde, nicht doch zu einer Schwerpunktverlage­rung führt. Wird nun nicht der Akzent vom Geber auf die Gaben verlagert?

Haben wir etwas anderes zu verkündigen als Jesus Christus den Gekreuzigten (1Kor 1,23; 2,2)? Die Gefahr besag­ter Schwerpunktverlagerung besteht durchaus, und zwar grundsätzlich immer. Sie besteht übrigens nicht nur hin­sichtlich der Charismen, wie die Kir­chengeschichte zeigt. Im Falle der korinthischen Gemeinde gab es offen­sichtlich eine Überbewertung des Charismas der Glossolalie. Andernorts bestand oder besteht die Gefahr der Wundersucht. Es ist auch möglich, dass die Erwartung gegenwärtigen prophe­tischen Redens die Autorität der bib­lischen Offenbarung zurückdrängt. Die Frage ist nur: Haben wir mit solchen Verirrungen grundsätzlich immer zu rechnen? Mir scheint, dass ein Studium des 1. Korintherbriefes hinsichtlich unseres Problems sehr ergiebig ist.

Kurz gesagt: Es kann uns helfen, eine Gesamtschau zu gewinnen; aus falschen Polarisierungen herauszufinden; zu einer oft verlorenen Ganzheit zurück­ zukommen. Es stimmt, dass der Apostel im 1. Korintherbrief das “Wort vom Kreuz“ stärker akzentuiert hat als in jedem anderen uns erhaltenen Paulus­brief. Gleichzeitig hat er in einer Breite und Grundsätzlichkeit über die Auferstehung Christi und ihre axio­matische Bedeutung geschrieben (1Kor 15) wie sonst nirgends. Er hat schließlich sogar der korinthi­schen Gabenfülle, ja Überbewertung einer Gabe gegenüber mit Nachdruck zum Eifern um Charismen gemahnt.

Ist dies nicht alles reichlich wider­spruchsvoll? Keineswegs, oder doch nur dann, wenn in theologischen „Vorstellungskreisen“ gedacht wird. Geistlich gehören diese Äußerungen für Paulus offenbar als Aspekte zu­sammen. Das Wort vom Kreuz (Kapi­tel 1 u. 2) setzt für ihn die Tat­sächlichkeit der Auferstehung Jesu Christi voraus (1Kor 15,14­-19); vom auferstandenen Gekreuzigten re­den heißt dann auch von seinem „Leib“, der Gemeinde, reden, in welcher Gott Gnadengaben „eingesetzt“ hat (1Kor 12,18.28), nach denen man, wie nach allem, was in Christus ge­geben ist, auch streben soll! Die scheinbaren Gegensätze erweisen sich sehr rasch als zusammengehörige Aussagen. Wer im Ernst behauptet, das Betonen der Charismen sei automatisch eine Entehrung Jesu Christi, zieht sich auf ein verengtes Verständnis des “Wortes vom Kreuz“ zurück, ohne das paulinische Zeugnis vom Leib Christi in seinen Konsequenzen ernst zu nehmen!

II Unterschiede

1. Die Frucht des Geistes erwartet Gott von dem einzelnen, die Gaben des Geistes werden der Gemeinde verliehen
Es handelt sich hier um einen theolo­gisch und praktisch sehr wichtigen Unterschied. Bei der Frucht des Geistes geht es um die persönliche Heiligung. Keiner ist an dieser Stel­le vertretbar. Wie viel Raum gebe ich dem Wirken des Geistes in mir? Am Ende aller Tage, im Jüngsten Gericht, wird Gott mich nach den Werken der Liebe fragen, wie das gesamte Neue Testament bezeugt.

Bei den Gaben des Geistes geht es, umgekehrt, vorn Ansatz her um die Gemeinde. Paulus macht dies deutlich, indem er von den Gnadengaben sowohl Römer 12 wie 1Korinther 12 im Rahmen seiner Aussagen über den Leib Christi spricht. Hier lautet die Frage nicht: Was brauche ich? Noch weniger: Was wünsche ich mir? Sondern: Herr, was benötigt diese deine Gemeinde? Was braucht die Kirche heute? Theologisch gesprochen: Das Thema „Gaben des Geistes“ gehört in die Ekklesiologie, in die Lehre von der Kirche, ­ auch praktisch! Sehr viele hier und da auch heute begegnenden Probleme mit der Handhabung von Charismen lösen sich, wenn die Hin­ordnung auf die Gemeinde klar wird. Ein einzelner „Charismatiker“ ist so originell, aber auch so wenig sinnvoll wie ein sich über deutsche Straßen hinbewegender einzelner Arm. „Charismatische“ Grüppchen sind in dem Maße gefährdet, wie sie den Lebenszusammenhang einer örtlichen Gemeinde mit ihren Ordnungen scheu­en. Pointiert gesprochen: Nicht die einzelnen Christen haben Charismen, sondern die Gemeinde besitzt sie; der einzelne Christ nur soweit, wie er am Leben der Gemeinde dienend teilhat.

2. Die Frucht des Geistes „bleibt“, die Gaben des Geistes „bleiben“ nicht
In der noch ausstehenden Vollendung des Reiches Gottes wird die Liebe (also die Frucht des Geistes) blei­ben (1Kor 13,8). Sie wird bleiben, weil sie Ausdruck göttlichen Wesens ist. Selbst das Feuer des Jüngsten Gerichtes wird nicht alles verbren­nen, was von Menschen getan wurde. Haben Christen auf dem Fundament, welches Jesus Christus selber ist (1Kor 3,11), mit Gold, Silber und kostbaren Steinen gebaut, so wird dieses Werk Bestand haben   (1Kor 3,14).

Die Gaben des Geistes dagegen sind nur für die „Zeit der Kirche“ be­stimmt. In Gottes neuer Welt werden sie nicht mehr benötigt: Propheti­sches Reden hat ein Ende, Zungenrede verstummt, Erkenntnis vergeht. Ein Stückwerk ist unser Erkennen, Stück­werk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollkommene kommt, vergeht alles Stückwerk (1Kor 13,8­-10).

Aus der Perspektive der Ewigkeit er­gibt sich also eine Abwertung der Charismen. Gewagt ist es allerdings, sie deshalb auch im Blick auf diese noch andauernde Welt für unwichtig zu halten. Wohin kämen wir, wenn wir alle Dinge, die wir in der Vollendung nicht mehr benötigen, auch heute schon für „nicht so wichtig“ erklär­ten?

3. Die Frucht des Geistes hängt mit der persönlichen Heiligung zusammen, das Vorkommen der Gaben keinesfalls
Der erste Teil dieser These ist be­reits begründet; bedenken wir ihren zweiten Teil! Dass Gaben des Geistes auch abgesehen von der persönlichen Heiligung gegeben werden, macht z.B. die Apostelgeschichte daran deutlich, dass Charismen sogar Ungetauften zu­teilwerden konnten (Apg 10,44ff.). Paulus kritisiert an den Korinthern mehrfach ihre Lieblosigkeit (vgl. 1Kor 8­-9; 11,17­22; 13,1­7), be­streitet aber ihre Charismenfülle nicht (1Kor 1,7).

Das Ergebnis ist einerseits tröst­lich. Auch Christen, die unter ihrer mangelnden Heiligung leiden, können und dürfen ihre Charismen prakti­zieren. Gott ist ein geduldiger Gott. Die andere Seite dieser Wahrheit ist erschreckend. Sie besagt, dass Gott mir Charismen anvertrauen und diese nutzen kann, ohne mit meinem Glau­bensgehorsam einverstanden zu sein. Im Extremfall kann es dazu kommen, dass ich die persönliche Lebensgemein­schaft mit Jesus Christus verleugne, aber immer noch von Gott „gebraucht“ werde. Diesen Fall hat die Bergpredigt im Auge:

„Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr!, wird in das Himmelreich kommen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters im Himmel tut. Viele werden an jenem Tage (gemeint ist: des Jüngsten Gerichtes) zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophetisch geredet, und haben wir nicht in deinem Namen Dämonen ausgetrieben und in deinem Namen viele Wunder vollbracht? Dann werde ich ihnen antworten: Ich kenne euch nicht. Weg von mir, ihr Übertreter des Ge­setzes!“ Matthäus 7,21­-23

Hier werden christliche „Charismatiker“ angeredet. Sie besaßen die Gabe der Prophetie und betätigten sie. Sie hatten das Charisma der Dämonenaus­treibung und praktizierten es, durch sie geschahen Wunder, etwa auch Wun­der der Krankenheilung. Jesus Christus wird keinesfalls die charismatischen Betätigungen solcher Menschen infra­gestellen. Er wird ihnen allerdings bestreiten, Gemeinschaft mit ihm ge­habt zu haben. Die Betätigung von Gaben des Geistes und der praktische Lebensgehorsam können demnach soweit auseinandertreten, dass Menschen für immer verloren gehen.

Dieser Gedanke ist sehr ernüchternd! Wenn Gott uns gebraucht, durch uns Segen wirkt, ist er keinesfalls ohne weiteres mit unserer Beziehung zu ihm einverstanden. Hüten wir uns vor jedem Rückschluss von dem, was Gott durch uns wirkt, auf sein Ja zu un­serer Lebensführung!

Für Frucht und Gaben des Geistes gilt sinngemäß, was Paulus Philipper 4,19­-20 schrieb:

„… in Gott aber wird euch durch Christus Jesus alles, was ihr nötig habt, aus dem Reichtum seiner Herrlich­ keit schenken. Unserem Gott und Vater sei die Ehre in alle Ewigkeit. Amen.“

Wolfram Kopfermann

Anmerkungen:
1) Zur Begründung dieser Definition vergleiche meine Schrift Charismatische Gemeinde­-Erneuerung ­ – eine Zwischenbilanz, Hochheim 1981

2) Heinrich Schlier: „Herkunft, Ankunft und Wirkungen des Heiligen Geistes im Neuen Testament“, in: Claus Heitmann/Heribert Mühlen (Hrsg.): Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg/München 1974, S.129

Der Artikel erschien erstmals in: Rundbrief der Charismatischen Gemeinde-Erneuerung in der evangelischen Kirche, 12, Juni 1982, S. 3-8. Überarbeitete Fassung 2015.

 

 

 Wolfram Kopfermann

Umfallen beim Gebet?

Ein Wort der Verständigung über ein umstrittenes Phänomen

 

Der folgende, leicht überarbeitete Text ist eine frühe Äußerung zu dem Phänomen des Umfallens beim Gebet, das ab den 1980er Jahren vermehrt aufgetreten ist. Er geht daher nicht auf neuere Entwicklungen ein. Der Kern der Aussagen gilt jedoch unverändert und kann auf aktuelle Erfahrungen übertragen werden.

 

Wir hatten davon gehört: in Amerika, wo bekanntlich vieles anders ist, fielen gelegentlich oder, etwa im Dienst von Kathryn Kuhlman, häufig Menschen zu Boden, wenn für sie gebetet wurde. In der Literatur wurde diese Erfahrung bezeichnet als „Hingestreckt­“, „Überwältigtwerden vom Geist“, als „Fallen unter der Kraft“, als „Ruhen im Geist“. Inzwischen gibt es dieses Phänomen auch in Deutschland. Es löst Dankbarkeit oder Abwehr aus. Manche überlegen sich, ob es Zeit sei, Verbote auszusprechen. Natürlich gibt es auch Zwischentöne. Offen gesagt: die Gefahr lässt sich nicht leugnen, dass es an dieser Nebensächlichkeit zu Reibungen, Entfremdungen, ja hier und da zu Trennungen kommen könnte. Nichts erscheint deshalb vordringlicher als Besonnenheit. Es ist bequem, „dafür oder dagegen“ zu sein. Wichtiger erscheint mir die Frage: womit haben wir es eigentlich zu tun? Was lässt sich heute schon über dieses ein wenig geheimnisvolle Phänomen sagen? Wie gehen wir mit ihm um, wenn es auftritt? Die folgenden Überlegungen wollen nicht das letzte Wort zur Sache sprechen. Sie sind eher als Einladung zum Weiterdenken gemeint.

  1. Die Vielfältigkeit des Phänomens

Die Erfahrung, von der hier die Rede ist, tritt in unterschiedlichen Gestalten auf. Es ist notwendig, diese Vielfalt im Blick zu haben, wenn wir das Phänomen angemessen erfassen wollen.

1.) Das „Phänomen des Umfallens“ kann innerhalb der Einzelseelsorge oder in einem Gottesdienst oder einer anderen Zusammenkunft von Christen auftauchen.

2.) Es kann in Verbindung mit einer Handauflegung oder ohne eine solche passieren.

3.) Es kann solchen zuteilwerden, die es erwartet hatten und wollten, aber auch anderen, die fest entschlossen waren, nicht „umzukippen“.

4.) Es kann im Dienst eines geistlichen Leiters relativ häufig, aber auch nur gelegentlich auftauchen.

5.) Die Dauer des Ruhens kann wenige Sekunden, aber auch mehrere Stunden betragen.

6.) Menschen können diese Erfahrung machen, wenn sie vorher standen oder gesessen oder gekniet hatten.

7.) Nach den Selbstaussagen der Betroffenen kann damit eine lebensverändernde geistliche Erfahrung, aber auch nur ein Tage oder Stunden nachwirkendes Glücksgefühl verbunden sein.

  1. Die Mehrzahl der Deutungen

Das beschriebene Phänomen kann prinzipiell auf drei Weisen gedeutet werden:

1.) Manche Christen sind überzeugt, dass ein Umfallen von Menschen in einem geistlichen Kontext – etwa bei einer Handauflegung durch bevollmächtigte Christen, während einer Predigt oder in einem ähnlichen Zusammenhang – eine unmittelbare Wirkung des Heiligen Geistes ist. Sie nennen diese Erfahrung deshalb auch ohne Einschränkungen oder Vorbehalte „Ruhen im Geist“ oder ähnlich. Dass es sich hierbei um einen außergeistlichen (auf unbewussten Erwartungen, Autosuggestion oder anderen Kräften beruhenden) Vorgang handeln kann, auch wenn er in einem geistlichen Rahmen geschieht, erwägen sie nicht.

2.) Andere Christen bestreiten grundsätzlich, dass das Umfall­Phänomen, selbst wenn es innerhalb charismatischer Gottesdienste geschieht, etwas mit dem Heiligen Geist zu tun habe. So sprach etwa Kardinal Suenens[1]) von einer pseudo­mystischen Erfahrung. Er bezeichnete das Phänomen als „Geist­Ohnmacht“ und wertete es zusammenfassend ausschließlich als „parapsychologisches Phänomen“ (S.85). „Es gibt daher keinen berechtigten Grund dafür, sie (ergänze: diese Phänomene) einem direkten Eingreifen des Heiligen Geistes zuzuschreiben“ (S.87). Suenens scheint sie sozusagen für vermeidbar, also der bewussten Steuerung zugänglich zu halten, wenn er betont, es sei „wichtig“, dass sich „die Führer der Charismatischen Erneuerung nicht“ zu ihnen „hergeben“ (S. 87).

3.) Einer dritten Gruppe erscheint es am angemessensten, die Möglichkeit ernst zu nehmen, dass im Zusammenhang mit dem Wirken des Heiligen Geistes bestimmte psychosomatische Manifestationen begegnen können. Ob es im Einzelfalle der Heilige Geist war, der die Wirkung hervorbrachte, bleibt dabei zunächst offen. „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Matth.7,20): das gilt hier sinngemäß. Dass Erfahrungen der beschriebenen Art auf den Heiligen Geist zurückgehen können, möchte ich in dem folgenden Abschnitt (III.) deutlich machen. Rechnen wir grundsätzlich, also nicht für jeden Einzelfall, damit, dass dieses Phänomen auf eine intensive Einwirkung des Heiligen Geistes zurückgehen kann, so erhebt sich die Frage, wie man sich den Vorgang erklären soll. Wirft der Heilige Geist Leute um?

Francis MacNutt[2] teilt mit, dass die meisten Menschen, die dieses Phänomen erlebten, nach ihren Selbstaussagen dabei innerlich lebendiger als je zuvor gewesen seien (S.133). „Soweit ich sehe, ist es die Kraft des Heiligen Geistes, die einen Menschen mit einem derart gesteigerten inneren Bewusstsein erfüllt, dass die körperlichen Energien nachlassen, bis sie schließlich völlig ausfallen“ (S.132). Es gehe hier um „ein Zuviel an Leben für den Körper“ (S.133).

Dennis Bennett[3] äußert sich ähnlich: „Der Herr schlägt seine treuen Kinder nicht zu Boden, aber der menschliche Körper und auch die Seele reagieren manchmal auf das Wirken des Heiligen Geistes in dieser Weise. Plötzlich versagen dann die Muskeln, und unsere Glieder verlieren ihre Kraft, so dass die betreffende Person auf den Fußboden fällt. Der Mensch verliert dabei nicht sein Bewusstsein“ (S.114).

Kardinal Suenens interpretierte, wie wir sahen, das Phänomen als „Ohnmacht“ und behauptete, dass die betreffende Person „zu Boden stürzt und dort eine Zeitlang in einem Zustand mehr oder minder tiefer Bewusstlosigkeit verbleibt“ (S. 86). „Ohnmacht“ ist im medizinischen Sinne tatsächlich ein Zustand der Bewusstlosigkeit, der auf mangelhafter Durchblutung des Gehirns beruht und durch plötzliches Kreislaufversagen hervorgerufen wird. Viele von uns kennen Ohnmachten aus eigener Erfahrung oder aufgrund von Fremdbeobachtung. Diese Deutung für das Phänomen des Umfallens scheitert sowohl an dem offensichtlichen Erscheinungsbild als auch an den Selbstzeugnissen von Menschen, die das Phänomen aus eigenem Erleben kennen. Allerdings ist festzuhalten, dass wir im Hinblick auf die einzelnen Umstände des Zustandekommens dieser Erfahrung noch keine wissenschaftliche Klarheit besitzen. Freunde und Kritiker dieses Phänomens sind bisher gleichermaßen auf Vermutungen angewiesen. Auch Deutungen, die sich wissenschaftlich sehr selbstsicher geben, sind zurzeit nur Hypothesen.

III. Eine biblische Begründung

Bevor wir die viel gestellte Frage beantworten, ob das „Umfallen“ biblisch begründbar ist, müssen wir uns zunächst über den Sinn der Frage selber verständigen. Sie kann mindestens zweierlei meinen:

1.) Gibt es Stellen in der Bibel, insbesondere im Neuen Testament, in denen bezeugt wird, dass Menschen im Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums, bei einer Handauflegung durch Gläubige, im Rahmen eines christlichen Gottesdienstes oder bei vergleichbaren Anlässen umfielen?

2.) Ist das uns bekannte Phänomen des „Umfallens“ mit dem biblischen, zumal neutestamentlichen Verständnis des göttlichen Handelns am Menschen, insbesondere des göttlichen Geistwirkens vereinbar oder widerspricht es dem Wesen der Begegnung zwischen Gott und Mensch, wie sie die Heilige Schrift versteht? Ist es schriftgemäß?

Die Art der Frage, wie sie 1.) aufweist, nennen wir biblizistisch: nur, was in der Bibel steht, ist christlich legitim. Die Geistliche Gemeinde­Erneuerung in der evangelischen Kirche hat sich von Anfang an gegen den biblizistischen Weg entschieden; wir halten ihn für ungeschichtlich. Die Art der Frage, wie sie 2.) darstellt, ist an der Schriftgemäßheit einer heutigen Aussage oder Praxis interessiert. Nach dieser Sicht kann die Kirche auch Aussagen machen oder Handlungen vollziehen, die so in der Bibel kein Vorbild haben, aber der Heiligen Schrift nicht widersprechen. Dieser Umgang mit der Heiligen Schrift ist uns von Martin Luther als Erbe hinterlassen worden. In diesem Sinne wäre konkret zu fragen, ob man die biblische Legitimität des „Umfallens“ auf Texte wie Matthäus 17,6; Johannes 18,6; Apostelgeschichte 9,4; Offenbarung 1,17 gründen kann. Ich persönlich glaube, dass die genannten Stellen in den Umkreis unseres Themas gehören, dass sie aber die von ihnen erwartete Beweislast nicht zu tragen vermögen.

Es genügt im Sinne der 2. Art der Fragestellung die ­ allerdings unbestreitbare ­ Feststellung, dass Geisterfahrung nach dem Neuen Testament unter anderem auch Krafterfahrung ist, die sich nicht nur auf den menschlichen Leib bezieht, sondern sich auch körperlich manifestieren kann. Dazu einige Hinweise.

a.) Paulus stellt theologisch einen Zusammenhang zwischen dem Heiligen Geist und dem Leib der Gläubigen her, indem er lehrt, dieser sei ein Tempel des Gottesgeistes (1. Kor. 3,16; 6,19) Für Paulus ist es keine abstruse Merkwürdigkeit, sondern eine göttliche „Offenbarung“, als Gott ihn bis in den dritten Himmel entrückt (2. Kor. 12,1­2); dabei kommt es offenbar zu einer schwer definierbaren „Einbeziehung“ seiner Körperlichkeit, so dass er die Möglichkeit offen lässt, er habe sich außerhalb seines Leibes befunden (2. Kor. 12,2­4).

b.) Die Geisterfülltheit Jesu schließt nach Markus sein Erfülltsein mit Kraft ein. Nach Markus 3,10 wird Heilung vonseiten Jesu dadurch empfangen, dass Menschen ihn körperlich berühren. Die Geschichte von der Heilung der „blutflüssigen“ Frau ist nur verständlich, wenn man annimmt, dass auch der physische Leib Jesu mit Kraft aufgeladen war, die der hilfesuchenden Frau durch körperliche Berührung zugänglich wurde (Markus 5,25­34). Jesus nimmt (Vers 30) einen Verlust dieser Kraft an sich wahr. Während Protestanten geneigt sind, die Geschichte samt ihren Voraussetzungen in den „finsteren“ Bereich der Magie einzuordnen und offen oder heimlich die Frage nach einer evangelischen Bibelkritik erwägen, legitimiert Jesus das Verhalten der Frau, indem er es als „Glaube“ bezeichnet (Vers 34).

c.) Das Geistverständnis der lukanischen Schriften betont den Zusammenhang zwischen Geisterfahrung, Kraft und Leiblichkeit besonders. In der Taufgeschichte Jesu heißt es bei Lukas, der Geist sei in „leibhaftiger Gestalt“ herniedergestiegen (Lukas 3, 22). „Ähnlich ist es zu beurteilen, wenn er die sichtbaren Erscheinungen an Pfingsten gerne aufnimmt oder ein Erdbeben die Realität des Geschehens bezeugen lässt (Apg 2,3­6; 4,31).“ Lukas ist „daran interessiert“ dass der Geist „sich bis ins Sichtbare, Feststellbare hinein manifestiert. Dabei sind ihm gerade diese Manifestationen wichtiger als anderen neutestamentlichen Zeugen.“[4] Es passt in diese Sicht, dass der Geist nach Apostelgeschichte 8,39 den Philippus körperlich entrückt. Dem modernen personalistischen Denken bereitet es große Schwierigkeiten, dass nach Apostelgeschichte 5,15­16 dem Schatten des Petrus heilende Kraft zugeschrieben wird (Lukas hat diese volkstümliche Erwartung nicht kritisiert!). Später heißt es dann,  man habe die Schweiß­ und Taschentücher des Paulus den Kranken aufgelegt ­ mit dem Effekt, dass die Krankheiten gewichen und die bösen Geister ausgefahren seien (Apg 19,12). Ehe wir solche Aussagen kritisch hinterfragen, sollten wir unsere eigenen Denkvoraussetzungen überprüfen, die wohl immer noch stärker vom Idealismus als von biblischen Überlieferungen her geprägt sind. Eduard Schweizer hält den lukanischen Gedanken für „wesentlich“, „dass der Geist auch die Leiblichkeit des Menschen Gott unterstellen will, und dass seine Wirkung bis in diese Dinge hineinreicht“ (a.a.o. S.405).

Im Rahmen dieser neutestamentlichen Welt wirkt das Phänomen des „Umfallens“, wie wir es kennen, nicht ungewöhnlich. Das wäre nur dann anders, wenn man sich den Vorgang so vorzustellen hätte, als werfe der Heilige Geist Menschen zu Boden, als handele es sich also um ein Umgestoßen-Werden durch den Geist. Davon kann biblisch gesehen allerdings keine Rede sein. Ebenfalls verträgt sich eine Deutung des Umfall­Phänomens als Ohnmachts­Erfahrung nicht mit dem Neuen Testament. Beide Interpretationen sind unsachgemäß (vgl. oben). Solange bei der Erfahrung des Umfallens die personale Verantwortlichkeit des Menschen nicht beeinträchtigt wird, solange er also nicht zum Objekt göttlichen Handelns degradiert erscheint, bleibt das besprochene Phänomen schriftgemäß.

  1. Der geistliche Gewinn

Das Phänomen des Umfallens wird nicht immer, aber in vielen Fällen als segensreich erfahren. Dieses Urteil bezieht sich nicht auf die Gefühle, welche die betroffenen Menschen in jener Situation empfinden. Man sollte vorübergehenden Gefühlen von „Glück“ oder „Frieden“ nicht allzu viel Wert beimessen. Wenn sie überhaupt auftreten, halten sie meist nur einige Stunden oder Tage an und gehören zu den eher oberflächlichen Auswirkungen. Außerdem sind Gefühle allgemein kein Gradmesser spirituellen Lebens. Es kann sich nur darum handeln, die Art der Begegnung mit Gott und ihre Auswirkungen festzustellen.

Abgesehen von den Selbstaussagen einer Reihe von Mitchristen, die sich über geistliches Wachstum in Verbindung mit der Erfahrung des „Umfallens“ geäußert haben, werden in der wenigen bisher vorliegenden Literatur positive Auswirkungen festgehalten. Francis Mac Nutt berichtet von einem Seminaristen, der sich nach seiner Erfahrung folgendermaßen äußerte: „Ich meine immer noch zu hören: ‚Ohne mich könnt ihr nichts tun‘. Mein Leben lang habe ich immer alles in der Hand haben wollen. Jetzt muss ich es Gott überlassen“ (S.128). Derselbe Autor zitiert aus einem Brief: „Wirklich wichtig ist, dass ich Jesus jeden Tag (ergänze: nach dieser spezifischen Erfahrung) besser kennenlerne“ (S. 135). Eine Frau hatte, so Mac Nutt, während des „Ruhens im Geist“ den Herrn sagen hören: „Gib mir dein Leben, und ich will dich heilen.“ Sie übergab ihr Leben dem Herrn und war geheilt (S.135). Colin Urquhart[5] berichtet von einer Frau, der Gott in Verbindung mit dem besprochenen Erlebnis ihre innere Rebellion aufdeckte. Hinterher berichtete sie, Gott habe ihr gezeigt, wer der Herr in ihrem Leben sei (S. 72). Urquhart, der viele Leute nach ihren geistlichen Erfahrungen in Verbindung mit dem diskutierten Phänomen befragte, fasst seine Eindrücke so zusammen: „Obwohl dieses Phänomen manchmal psychologisch induziert sein könnte, sah ich genug, um mich von dem echten Werk zu überzeugen, welches Gott in vielen vollbrachte“ (S. 74; aus dem Englischen übersetzt). Andere Erfahrungen zeigen, dass zu den echten Früchten des Umfall­Phänomens gehören kann: ein vertiefter Glaube, eine verstärkte Bereitschaft zum Dienst am Nächsten, oft auch eine ganz neue Liebe zur Heiligen Schrift, mehr Verlangen nach persönlichem und gemeinschaftlichem Gebet und ein Hervorbrechen bzw. eine Intensivierung von Geistesgaben.

  1. Gefahren des Umgangs mit dem Phänomen des Umfallens

Wir sprechen hier nicht von den Gefahren des Umfallens, sondern denen des Umgangs mit dem Phänomen. Auch die „Befürworter“ dieser spezifischen Erfahrung machen immer wieder auf die hier zu beachtenden Gefahren aufmerksam.

Mac Nutt prangert die Sensationslust an: „Anstatt auf Jesus zu schauen, wollen die Menschen das Sichtbare und Greifbare. Wenn links und rechts jemand umfällt, entsteht eine Zirkusatmosphäre, die auf jeden besonnenen Christen störend wirkt.“ (S.142). Er warnt davor, jedes Umfallen für ein Zeichen des Geistes zu halten; zu glauben, ein Treffen sei geisterfüllter, wenn Menschen umfielen; ein Geistlicher sei geisterfüllter, durch dessen Hände Menschen diese besonderen Erfahrungen machten; einer, der umfällt, sei geisterfüllter als jemand, dem dies nicht zuteilwird; er macht darauf aufmerksam, dass sich bei dem ganzen Vorgang ein falscher Stolz einschleichen kann (S.142 bis 145).

Ähnlich kritisch äußert sich Dennis Bennett: „Menschen mögen Heilung empfangen, während sie unter der Kraft zu Boden fallen. Doch genauso oft fallen sie und werden nicht geheilt. Das Fallen bewirkt die Heilung nicht“ (S. 118). Auch er moniert: „Wenn Menschen unter der Kraft zu Boden fallen, denken viele, dies sei ein Beweis für die Heiligkeit und Kraft des Evangelisten sowie für die Wirksamkeit seines Dienstes; außerdem meint man, dass Menschen, die auf diese Weise fallen, sich besonders bereitwillig dem Heiligen Geist untergeordnet hätten. Beides ist falsch.“ (S.119). Besonders bedenkenswert erscheint mir folgende kritische Überlegung von Bennett: „Viele Leute möchten gern, dass etwas an ihnen oder für sie geschieht, damit ihre Probleme gelöst werden, ohne dass sie selbst etwas dazu tun müssen … Es mag eine Anzahl Menschen geben, die es nicht nötig haben, unter der Kraft zu fallen, sondern eher Buße zu tun und Vergebung zu suchen oder ihren Ungehorsam dem Willen Gottes gegenüber zu ändern, damit sie in ihrer Seele Heilung finden. Doch wenn man selbst nichts zu tun braucht, meinen manche, wäre das ja viel einfacher.“ (S.119).

Die Nennung dieser Gefahren soll nicht aufheben, was früher über die Möglichkeiten eines geistlichen Gewinnes in Verbindung mit dieser Erfahrung gesagt wurde. Sie sollten aber unsere Sensibilität schärfen für die Abgründe, in die wir geraten können!

  1. Pastorale Empfehlungen

1.) Dem Vorschlag John Richards folgend, habe ich es bereits in den vorausgehenden Überlegungen vermieden, das fragliche Phänomen mit einem eindeutig geistlichen Etikett zu versehen. Richards rechnet grundsätzlich damit, dass in Verbindung mit unserem Phänomen Menschen eine geistliche Erfahrung zuteilwerden kann, er möchte aber etwa vom „Ruhen im Geist“ erst dann sprechen, wenn sich an den Früchten dieser Erfahrung zeigt, dass sie vom Geist geschenkt war. Im Übrigen zieht er es vor, eine an der körperlichen Seite des Phänomens orientierte Beschreibung zu geben (z.B.: „Während des Gottesdienstes fielen drei Menschen um“). Ich halte diese Sprachregelung für außerordentlich hilfreich; sie nimmt das geistliche Urteil nicht vorweg und könnte Befürworter und Kritiker des Phänomens näher zueinander bringen.[6]

2.) Jedes unmittelbare Aus-Sein auf diese Erfahrung ist von der Bibel her abzulehnen. Sowohl der „Segner“ als auch der Segen­Suchende sollten sich an Jesus Christus orientieren. „Ich war jedoch entschlossen, dieses Phänomen niemals anzustreben. Die Konzentration sollte sich auf den Herrn selber richten und darauf, dass wir im Glauben zu ihm kommen, nicht auf diese oder jene Manifestation der Auswirkungen seiner Kraft gegenüber Menschen. Es war möglich, Heilung im Stehen, im Knien, im Sitzen oder im Liegen zu empfangen‘! (Colin Urquhart a. a. O., S.74; aus dem Englischen übersetzt).

3.) Wir brauchen eine grundsätzliche Offenheit dafür, dass auch in unserem Erfahrungskreis eine Begleiterscheinung des geistlichen Lebens wie die besprochene passiert. Wenn es keine stichhaltigen Gründe gegen die Möglichkeit dieses Phänomens vom Neuen Testament her gibt, wenn aber genügend Material vorliegt, welches darauf hindeutet, dass Menschen einen wirklichen Gewinn von dieser Erfahrung haben können, sollten wir für sie grundsätzlich offen sein, zumal sie eben nicht der willensmäßigen Steuerung unterliegt.

4.) Wer in sich eine Abwehr, ja sogar Angst gegenüber diesem Phänomen spürt, sollte sich ehrlich seinen Emotionen stellen, statt sie theologisch zu rationalisieren. Fürchten wir uns davor, uns ein Stück weit aus der Hand zu geben?

5.) Wo das fragliche Phänomen in Verbindung mit dem Dienst eines Christen oder einer Christin unter uns häufiger auftritt, sollten wir diese Sondererfahrung nicht isolieren, indem wir etwa fragen, ob man diesen Mann oder diese Frau in Zukunft noch einladen könne. Wir sollten vielmehr prüfen, ob der Dienst solcher Christen im Ganzen von Gott gesegnet wird, d.h. ob durch sie Glaube ermutigt, Liebe vertieft, Hoffnung geweckt, Heilung vermittelt oder Heiligung voran gebracht werden. Ist der Dienst eines Mitchristen in dieser Weise durch Früchte des Geistes ausgewiesen, so sollten wir es uns verboten sein lassen, ihn wegen des besprochenen Randphänomens zu verdächtigen, uns von ihm zu distanzieren oder zu versuchen, ihn „von dieser Praxis“ abzubringen. Wie soll er das anstellen?

6.) Durch Vermeiden oder Verbote lässt sich das aufgeworfene Problem ebenso wenig bewältigen wie durch Erlebnissüchtigkeit. Immer wieder zeigt sich, dass neuartig wirkende geistliche Erfahrungen ihre Überbetonung am leichtesten verlieren, wenn sie in das Ganze des geistlich kirchlichen Lebens integriert werden.

Aus: Gemeinde-Erneuerung, Juni 1983

Überarbeitung 2016

[1] Léon-Joseph Suenens : Gemeinschaft im Geist, Salzburg 1979, S. 85 ff.

[2] Francis MacNutt: Beauftragt zu heilen, Graz/Wien/Köln/Metzingen 1979, S. 126 – 147.

[3] Dennis Bennett:  Wachstum durch Fülle im Heiligen Geist, Erzhausen 1983, S. 111-125

[4] Eduard Schweizer:  Artikel „Pneuma“ in: Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, ed. Gerhard Friedrich, Stuttgart, Band VI, S.404.

[5] Colin Urquhart: Faith for the Future London/Sydney/Auckland/Toronto 1982, S. 64-74.

[6] John Richards u.a.: Resting in the Spirit. Renewal Servicing, P.O.Box 366, Addlestone, Weybridge, Surrey KT 15 3 UL (ein siebzehnseitiges hektografiertes Arbeitspapier)

Die Geister unterscheiden

Wolfram Kopfermann

 

Das Neue Testament redet betont vom Wirken des Heiligen Geistes, aber es tut dies nicht naiv. Naiv wäre eine Lehre vom Heiligen Geist, welche die Möglichkeit einer fälschlichen Berufung auf den Geist Gottes übersähe. In den Evangelien wird die Gemeinde des Christus vor falschen Christussen und falschen Propheten gewarnt, die Zeichen und Wunder tun werden, um, wenn möglich, auch die Auserwählten irrezuführen (Mk 13,21 f; Mt 24,23 f). Diese Warnung ist nur sinnvoll, wenn es Ähnlichkeiten zwischen den Wirkungen Christi und denen der Pseudo-Christusse, des Heiligen Geistes und der Lügengeister gibt. Diese Linie setzt sich im Übrigen Neuen Testament fort bis zur Offenbarung des Johannes, wo vom Wirken und Geschick des „falschen Propheten“ die Rede ist (vgl. 16, 13; 19, 20; 20, 10 im Zusammenhang).

  1. Die Notwendigkeit der Geisterunterscheidung

 

  1. Die personalen Mächte des Bösen

 

Dem modernen protestantischen Denken bereitet es kaum Schwierigkeiten anzuerkennen, dass es einerseits geschöpfliche, die Alltagserfahrung übersteigende menschliche Begabungen und Fähigkeiten gibt, andererseits vom Menschen ausgehende Wirkungen, in denen sich der Heilige Geist manifestiert. Darüber hinaus redet die Bibel von einer Realität des Satanischen, rechnet also mit dem Teufel und seinen Dämonen.

Diese personalen Mächte des Bösen  müssen wir ernst nehmen. Dabei leiten uns zwei Gesichtspunkte: zuerst und vor allem die an dieser Stelle eindeutige Sicht des Neuen Testamentes; dann die auffällige Erfahrung, dass die tiefsten Christuszeugen zugleich am eindringlichsten mit den personalen Mächten des Bösen gerechnet haben. Jesus hat von einem Reich des Satans und der Dämonen gesprochen, in das er kämpfend und überwindend eingedrungen ist. Mächte des Bösen und des Verderbens werden im Neuen Testament unterschiedlich benannt: Diabolos (Teufel), Satanas, Beelzebul, der Feind, der Versucher, der Verkläger, der Böse, der große Drache, die unreinen Geister usw. Zweifellos sind in der Verkündigung Jesu und der urchristlichen Gemeinde jüdische Vorstellungen von bösen Mächten vorausgesetzt, jedoch nicht unverändert übernommen. Ihre Herrschaft wird umfassender und radikaler verstanden als im Judentum. Von den bösen Geistern wird jetzt als Gliedern eines in sich geschlossenen, durch Über- und Unterordnung zusammengehaltenen satanischen Herrschaftsgefüges gesprochen, dessen Gewalt nicht nur einzelne Menschen oder Völker, sondern die ganze Welt unterworfen ist. Satan ist „der Fürst dieser Welt“ Joh 12,31; 14,30; 16,11), „der Gott dieses Äons“ (2 Kor 4,4). Erst in der Begegnung mit Jesus Christus sind Sünde, Tod und Teufel in ihrer die ganze Menschheit beherrschenden gottfeindlichen Macht vollends aufgedeckt worden. Allerdings wurden die Mächte der Dunkelheit im Ostersieg des Gekreuzigten überwunden (Kol 2,15; Eph 1,21 f; Hebr 2,14); die Gläubigen haben Anteil an Christi Sieg (Eph 2,6; 1 J oh 2,13 f).

Unter den evangelischen Christuszeugen, welche die Realität des Satanischen besonders betont haben, seien exemplarisch zwei genannt, nämlich Martin Luther und Johann Christoph Blumhardt. Für den Reformator gilt: „Dass Luther auch eine Lehre vom Teufel bietet, geschieht unter der Autorität der Heiligen Schrift und knüpft zugleich an die kirchliche Tradition an. Aber dass und wie er vom Teufel redet, geht über bloßen Biblizismus und Traditionalismus weit hinaus. Er führt nicht einfach ein Stück theologischer und auch volkstümlicher Überlieferung weiter, sondern bezeugt die Wirklichkeit und Furchtbarkeit der Macht des Teufels aus eigener Erfahrung mit persönlichster Überzeugung in größtem Ernst. Es ist nicht möglich, seine Theologie an diesem Punkt nur als mittelalterliches Erbe verstehen zu wollen, soviel er im Einzelnen auch durch den traditionellen Teufels- und Dämonenglauben bestimmt ist. Er hat den Teufel viel ernster genommen als das Mittelalter … Das hängt ohne Frage daran, dass Luther das Wesen der Herrschaft Gottes und Christi mit neuer Klarheit erkannt hat und dadurch auch einen neuen scharfen Blick für die Gegenmacht und die Schwere und Tiefe des umfassenden Kampfes zwischen Gott und der Macht des Widerstandes gewonnen hat. Luther kehrt auch hier zu der Sicht Jesu und des Urchristentums zurück. Sein Reden vom Teufel gehört aufs engste und untrennbar mit dem Zentrum seiner Theologie zusammen. „[1]

Blumhardts berühmter Kampf um die Befreiung und Heilung seines Gemeindegliedes Gottliebin Dittus hat ihn zu folgenden Erkenntnissen geführt: „Ich berühre das alles nur, um zu beweisen, wie wertvoll mir die Dauer des Kampfes war. Denn wahrlich, mir ist ein Licht aufgegangen in die Tiefe, darum auch in die Höhe. Denn wer die Tiefen des Satans nicht versteht, hat nicht den rechten Blick in die Höhen des zur Rechten Gottes sitzenden Mittlers und Heilandes. Übrigens habe ich in obigem nur ein Stück angeführt; aber ich wäre noch lange nicht fertig, wenn ich’s aussagen wollte, was mir alles, als unter dem Seufzen der Kreatur nach innen und außen verborgen, klargeworden ist. Lob und Dank sei darum dem treuen Gott und Heiland, dass Er mich so lange hat zappeln lassen!“[2] Es geht bei dem Hinweis auf die Notwendigkeit, mit den personalen Mächten des Verderbens zu rechnen, nicht um eine Aussage des Weltbildes. Die dämonischen Mächte sind niemals Gegenstand der Wahrnehmung und Überprüfung wie Gegenstände in der Welt. Jeder plakativen „Abbildung“ des Bösen, jedem falschen Bescheidwissen ist zu misstrauen. Nur so viel soll deutlich werden, dass der Prozess der Unterscheidung der Geister ohne das faktische Rechnen mit dem personalen Bösen ganz unmöglich ist.

  1. Das Ernstnehmen des nur Menschlichen

 

Das Neue Testament scheint neben dem Rechnen mit dem Gottesgeist und seinen Wirkungen einerseits, dem Ernstnehmen der satanischen Realität und seiner Manifestation andererseits eine dritte Möglichkeit nicht im Blick zu haben: die nämlich, dass eine im Bereich von Kirche und Gemeinde wahrnehmbare menschliche Äußerung nur menschlich ist. Diese Beobachtung muss ernstgenommen werden. Wenn es um die Geister geht, denkt das Neue Testament dualistisch („entweder – oder“). Das hängt offenbar damit zusammen, dass in den Zusammenhängen, die es hier zu beachten gilt, Warnungen ausgesprochen werden, bei denen es um eine letzte Verführung, also um Heil oder Unheil, geht. Das liegt noch tiefer daran, dass allgemein, wie besonders Paulus und Johannes lehren, der Mensch nur als Glaubender oder als Nichtglaubender, im Licht oder in der Finsternis existieren kann. An dieser Stelle fällt kein Blick auf die geschöpflichen Begabungen des Menschen. Obwohl diese Betrachtung nicht zentral für das Neue Testament erscheint, kommt sie jedenfalls vor: so erklärt Jesus fast beiläufig, dass seine Hörer böse seien, ihren Kindern aber  nichtsdestoweniger gute Gaben geben könnten (Mt 7,11; Lk 11,13). In diesem Zusammenhang fällt auch die Unbekümmertheit auf; mit der das Matthäus-Evangelium von den Magiern aus dem Osten erzählt (2,1-12). Deren Praktiken werden zwar nicht zur Nachahmung empfohlen; aber Matthäus setzt doch voraus, dass einerseits astrologisches Wissen sie zum neugeborenen Jesus geleitet hat (Vers 2), dass ihnen andererseits im Traum göttliche Weisung zuteilwird (Vers 12). Es handelt sich hier, dies darf nicht vergessen werden, um Heiden. Ähnlich unbekümmert wirkt Matthäus 12, 27: der Vers behauptet doch, dass es Dämonenaustreibungen auch außerhalb der Jüngergemeinde Christi, nämlich bei den Pharisäern gibt. Vielleicht darf auch daran erinnert werden, dass nach dem Johannes-Evangelium der Hohepriester Kaiphas prophetisch redet, wie der Evangelist ausdrücklich feststellt (11,51), ohne den Heiligen Geist zu haben. Denn auch für Kaiphas gilt ja die Aussage von Kap. 7,39: der Geist war noch nicht gegeben, weil Jesus noch nicht verherrlicht war. Dies alles heißt: die Geschöpflichkeit auch des unerlösten Menschen ist nicht soweit pervertiert, dass er nicht positiver Handlungen fähig wäre, die im Rahmen des Vollzugs der Geisterunterscheidung nicht einfach als satanisch abgetan werden dürfen.

  1. Der Vollzug der Geisterunterscheidung
  2. Geistliche Kriterien

  1. Die Frage nach dem Inhalt der Geistäußerung

Der erste Johannesbrief schärft ein: „Ihr Lieben, glaubt nicht einem jeden Geist, sondern prüft die Geister, ob sie aus Gott sind; denn es sind viele falsche Propheten ausgegangen in die Welt. Daran sollt ihr den Geist Gottes erkennen: jeder Geist, der bekennt, dass Jesus Christus im Fleisch gekommen ist, ist aus Gott; und jeder Geist, der Jesus nicht bekennt, ist nicht aus Gott. Und das ist der Geist des Antichrists, von welchem ihr gehört habt, dass er kommen werde, und der jetzt schon in der Welt ist“ (4, 1-3). Hier werden falsche und wahre Propheten, Geist Gottes und Geist des Antichrists am Kriterium der rechten Lehre gemessen. Wer die Fleischwerdung des Gottessohnes leugnet, spricht nicht aus Gottes Geist. Es ist deutlich, dass die Bestreitung der Inkarnation auf das Ganze des kirchlichen Lebens gesehen nur eine Form der Irrlehre darstellt. Die Kirche hat in ihrer Geschichte mit zahlreichen lehrmäßigen Verirrungen zu tun gehabt und hat es heute noch. Wichtig für unsere Frage ist der leitende Grundsatz: wo immer eine angebliche Geistäußerung der offenbarten Wahrheit des Evangelium widerspricht, ist sie als ungöttlich zu entlarven. Der Geist befindet sich immer in Übereinstimmung mit der Urtradition der Kirche: „Der Beistand aber, der Heilige Geist, den der Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles lehren und euch an alles erinnern, was ich euch gesagt habe“ (Joh 14, 26). Von hier aus ist die reformatorische Lehre zu verstehen, dass der Geist sich an das Wort der Schrift bindet. Was gegen die Schrift ist, stammt auch nicht aus dem Geist.

  1. Die Frage nach der Person, die sich äußert

Ein anderes Kriterium, das gegenüber angeblichen Geistäußerungen anzuwenden ist, findet sich Mt 7,15-23: „Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man auch Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? So bringt ein jeder gute Baum auch gute Früchte; ein fauler Baum aber bringt böse Früchte. Ein guter Baum kann keine bösen Früchte bringen, und ein fauler Baum kann keine guten Früchte bringen. Ein jeder Baum, der keine guten Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum sollt ihr sie an ihren Früchten erkennen. Es werden nicht alle, die zu mir sagen: Herr, Herr! in das Himmelreich kommen, sondern die den Willen meines Vaters im Himmel tun. Viele werden an jenem Tage zu mir sagen: Herr, Herr, haben wir nicht in deinem Namen prophetisch geredet? Haben wir nicht in deinem Namen böse Geister ausgetrieben? Haben wir nicht in deinem Namen viele Wunder getan? Dann werde ich ihnen bekennen: Ich habe euch nie gekannt; weicht von mir, ihr Täter der Gesetzlosigkeit!“

Hier wird nicht nach dem Ausspruch, sondern nach dem Sprecher gefragt; nicht was gesagt wird, sondern wer da redet, steht zur Debatte. Die Untersuchung richtet sich auf den Glaubensgehorsam des angeblichen Geistträgers. Zweimal, in Vers 16 a und in Vers 20, ist von den Früchten als dem Erweis geistlicher Echtheit die Rede. Diese Aussage des Matthäus-Evangeliums bezieht sich auf „Charismatiker“, die zwar am Christus-Bekenntnis festhalten, also Jesus den Kyrios nennen (Vers 21 f), im Übrigen aber Gesetzesübertreter sind. An dieser Stelle wird nicht etwa bloß der schlechte Lebenswandel als etwas angesehen, das die Geistäußerung in Frage stellt, sondern offenbar vor jeder sogenannten Geistäußerung gewarnt, die einem ungehorsamen Leben entspringt. So wenig es in das „evangelische“ Denken passen mag: wir sollen hier nicht zwischen Sache und Person trennen! Es gibt demnach auch personale Kriterien für Geistäußerungen. Das erste wäre: wo ein Mensch in offensichtlicher Weise (von heimlichen Anfechtungen und Nöten ist hier nicht die Rede) den Glaubensgehorsam verweigert, sind auch seine angeblichen Geistäußerungen zurückzuweisen. Folgt man dieser Fährte, so wird eine weitere Unterscheidung wichtig. Sie wird zwar im Neuen Testament meines Wissens nicht genannt, ist aber für die heutige Praxis wichtig. Als ein in der Person liegendes Hindernis für Geistäußerungen kann sich neben bewusstem Ungehorsam auch fehlende psychische Gesundheit herausstellen. Es ist in diesem Falle durchaus möglich, dass ursprüngliche geistliche Impulse in einer solchen Person wirksam werden. Sie verbinden sich allerdings mit kranken psychischen Einflüssen, so dass das Ergebnis verwirrend ist. Wo neurotische und psychotische Kräfte in Menschen wirken, kann sich ein besonderes Bedürfnis nach häufigen Äußerungen vor der Gemeinde, besonders was den Bereich der Prophetie angeht, zeigen. Solche Beiträge müssen liebevoll, aber bestimmt zurückgewiesen werden.

  1. Die Frage nach der Wirkung der Geistäußerungen

Paulus hat im 14. Kapitel des 1. Korintherbriefes Anweisungen für den Gebrauch der Geistäußerungen im Gottesdienst gegeben. Der leitende Gesichtspunkt liegt dabei in der Frage, wie weit die Gemeinde durch solche Geistäußerungen aufgebaut werde (so ausdrücklich Vers 4 und Vers 12). Hier ist also vorausgesetzt, dass Geistäußerungen sowohl in lehrmäßiger Hinsicht als auch im Blick auf die Person dessen, der sich äußert, in Ordnung, dass sie aber der Gemeinde dennoch abträglich sein können. Ein solcher Fall wäre etwa gegeben, wenn ein Sprachengebet ohne Auslegung in der Gemeindeversammlung vorkäme (Vers 28). Diese Grundregel lässt sich nun ebenfalls verallgemeinern, auch wenn dabei Gefahren zu beachten sind. Es könnte sein, dass Gemeindeglieder immer wieder einmal Predigten, freie Geistäußerungen, Ermahnungen, seelsorgerliches Zureden damit abwehren, dass sie behaupten, solche Dinge hätten ihnen nicht geholfen, sie seien beunruhigt worden, man habe ihnen Angst bereitet, sie hätten derartiges nicht verkraftet und anderen sei es genauso ergangen. Ich spreche, wie gesagt, hier von Abwehrreaktionen und nicht davon, dass in der Aussage selber etwas Ängstigendes gelegen habe, was bekanntlich ja auch der Fall sein kann. Hier wäre übersehen, dass nicht mehrheitlich oder rein subjektiv entschieden wird, was dem Aufbau der Gemeinde dient; dass oft gerade geistliche Provokationen, gegen die wir uns zunächst wehren, uns am meisten voranbringen, dass nur ein sich Einlassen auf Gott uns die Kraft eines aufbauenden Wortes erfahren lässt. Trotzdem bleibt hier ein wichtiges Kriterium für die Echtheit von Geistäußerungen: es geht dem Heiligen Geist nicht um abstrakte Richtigkeiten, sondern um das, was dieser Gemeinde jetzt hilft. Von daher kann es ungeistlich sein, dieser oder jener Äußerung Raum zu geben, auch wenn vom Inhaltlichen oder im Blick auf die sich äußernde Person kein Anlass zur Kritik besteht. Beispiel: Wenn eine Gemeinde eine gewisse Zahl prophetischer Worte aufgenommen hat, kann sie u. U. auch dann nicht mehr hören, wenn ihr ein alles Bisherige an Tiefe übertreffendes Wort gesagt wird.

  1. Die Frage nach dem (verborgenen) Ursprung der Geistäußerung

Lukas berichtet, Petrus habe ein gebefreudiges Ehepaar aus der Gemeinde „durchschaut“: dem Apostel sei die heimliche Lüge hinter dieser angeblichen Geistäußerung aufgegangen, er habe den satanischen Ursprung dieser frommen Aktion erkannt, mit der Folge, dass dieses Ehepaar sterben musste (Apg 5,1-11). Von Paulus wird berichtet, dass er die „Hilfe“ einer Magd nicht annahm, die ihm und seinen Mitarbeitern in Philippi viele Tage lang nachlief, an denen sie, die Heidin, ausrief: „Diese Menschen sind Diener des höchsten Gottes; sie verkünden euch den Weg des Heils.“ Paulus erkannte nämlich, dass hinter diesem frommen Bekenntnis ein böser Geist steckte, den er dann austrieb (Apg 16, 16-18). Diese Stellen führen zu einer generellen Einsicht: nicht immer sind falsche Geistäußerungen auf Grund ihres lehrmäßigen Gehaltes oder im Blick auf die offensichtliche Verkehrtheit des Gabenträgers erkennbar; oftmals ist eine geistliche Intuition notwendig, um zu erkennen, welcher Geist hier wirkt. Das Ergebnis dieser Art von Prüfung muss nicht sein, dass satanischer Einfluss diagnostiziert wird; es kann sich auch um bloße menschliche Richtigkeiten handeln, die als besonderes Reden des Geistes für diesen Augenblick ausgegeben werden. Eine solche Diagnose ergibt sich häufig im Blick auf sogenannte prophetische Äußerungen: sie entpuppen sich als durchaus richtige, aber selbstgemachte, keinesfalls inspirierte Beiträge. Es ist wohl einleuchtend, dass der zuletzt besprochene Aspekt der Geisterunterscheidung in gewisser Weise der schwerste ist; denn hier genügt weder Schriftkenntnis noch theologischer Durchblick; weder der unbestechliche Blick in das Leben der Person noch die pastorale Weisheit, welche spürt, was der Gemeinde jetzt zum Aufbau dient: hier geht es um ein Stück unverfügbarer persönlicher Offenbarung!

  1. Der konkrete Vollzug der Geisterunterscheidung

 

Prüft die Kirche die Geister, ob sie aus Gott sind (1 Joh 4,1), so ist die Feststellung des Prüfergebnisses kein Selbstzweck.

Sie hat zu bestärken, was aus dem Heiligen Geist kommt, aber noch schwach ist: es soll wachsen.

Ist der nur menschliche Anteil groß, ja, handelt es sich um eine fromme, aber geistlose Imitation des göttlich Gewirkten, so hat sie zu einer neuen geistlichen Fundierung oder Vertiefung zu führen: dazu ist Umkehr nötig.

Hat sich herausgestellt, dass Menschen an böse Geister gebunden sind, so brauchen sie Befreiung.

Daraus ergibt sich, dass viele Gaben in dem Dienst der Geisterunterscheidung zusammenwirken müssen: die Gaben der Lehre, der Predigt, der Gemeindeleitung, der Seelsorge, der geistlichen Intuition bzw. der Herzensschau.

  1. Ausblick

Es sollte deutlich werden, dass die Rede von der notwendigen Geisterunterscheidung innerhalb der Kirche einen zentralen Vorgang meint. Nur im Zusammenspiel geistlicher Gaben und Dienste kann das geschehen, worum es hier geht. Andernfalls kommt es zu Reglementierungen kirchlichen Lebens, bei denen die Großzügigen die Ängstlichen, die Engherzigen die Freien, die Lehrbegabten die theologischen Laien, die Spontanen die Ordnungsliebenden usw. beherrschen. Dass wir Einblicke in dunkle menschliche und dämonische Abgründe gewinnen, wenn wir diese Aufgabe ernstnehmen, liegt auf der Hand. Kampf und Leiden sind unvermeidlich; ebenso gibt es aber Durchbrüche und Siege. Nur eines ist ganz unnötig: die Angst, dem ständig drohenden Bösen und seiner Verführung erliegen zu müssen. „Dazu ist der Sohn Gottes erschienen, dass er die Werke des Teufels zerstöre“ (1 Joh 3,8).

Dieser Artikel erschien erstmals unter der Überschrift “Die Geister unterscheiden. Systematische und pastorale Erwägungen aus evangelischer Sicht“ in: Erneuerung in Kirche und Gesellschaft, Heft 21, 1984, S. 19-24. Überarbeitete und gekürzte Fassung 2016

[1] Altbaus, Paul: Die Theologie Martin Luthers, Gütersloh 1962, S. 145

[2] Blumhardt, Johann Christoph: Gesammelte Werke, Bd. I 1, hg. von Gerhard Schäfer, Göttingen 1979, S. 162

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Wolfram Kopfermann

Geistliches Leben und
Geschlechtlichkeit in neutestamentlicher Sicht

 

1.   Geisterneuerung und Ethik

Geistliches
Leben als Gehorsam gegenüber Jesu Wort

Der Heilige Geist bindet uns an das
Wort und den Willen Jesu. Er macht Jesu Wort und Willen für uns verbindlich!
Das ist das Ende unserer Autonomie, also eines selbstherrlichen Lebens, das
unter dem Motto steht: ,,Ich tue, was ich will“ oder: „Herr, andere
Bereiche sollst du gerne durchdringen und formen, aber lass mir doch diesen
…“. Zum Beispiel:
,,Lass mir den Bereich meiner Geschlechtlichkeit zu meiner eigenen Verfügung“.

Mit dieser Verbindlichkeit ist das Ende des Subjektivismus proklamiert. Der Subjektivismus sagt z.B.: ,,Wenn
ich das tue, von dem meine Gemeinde sagt, es sei falsch, aber ich fühle mich
gut dabei und ich spüre nicht, dass da etwas zwischen Jesus und mir steht, dann
kann das doch nicht verkehrt sein!“ Der Subjektivismus ist eine der größten
Bedrohungen der heutigen Christenheit, eine Konsequenz des Humanismus. Die
Wurzel des Humanismus ist der autonome Mensch. Aber das Christentum lehrt eben
nicht: keineswegs lehrt: Im Mittelpunkt steht der Mensch, sondern: Im
Mittelpunkt steht Gott! Da kann man sich nur entscheiden, ob man das eine oder
das andere will. Wenn der Geist mich an den Willen Jesu bindet, dann frage ich
nämlich nicht mehr mein Gewissen als letzte Instanz, sondern ich frage
Jesus: ,,Was sagst du dazu?“

 

Ich möchte diesen Grundsatz kurz an
drei Schriftgruppen des Neuen Testamentes aufzeigen: In den Abschiedsreden des
Johannes-Evangeliums sagt Jesus Christus, er werde den Geist senden, den
Parakleten, und dieser Geist werde nun nicht etwas Neues bringen, etwas
anderes, sondern er werde die Jünger
erinnern an alles, was Jesus
gesagt hat, ihnen dieses Wort aufschließen und lebendig machen, aber sie eben
daran auch binden (vgl. Joh 14,25f; 16,12-14). Am Ende des Matthäus-Evangeliums
steht der Missionsbefehl, der mit den Worten Christi beginnt: ,,Mir ist alle
Gewalt gegeben im Himmel und auf der Erde; darum geht hin, macht zu meinen
Jüngern alle Völker!“ (Mt 28,18ff). Das ist der Oberbefehl: ,,Macht zu
meinen Jüngern alle Völker!“ Damit dies geschehen kann, werden dann in
diesem Text drei Anweisungen gegeben. Erstens: Ihr müsst hingehen. Zweitens:
Ihr sollt sie taufen in den Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen
Geistes. Drittens: Ihr sollt sie anleiten, alles zu
halten, was ich, Jesus, euch befohlen habe. Auch hier ist
klar: Der Geist, in den hinein die
Taufe geschieht, leitet dazu an, das ernst zu nehmen, was Jesus gesagt hat,
sich unter sein Wort zu stellen. Weisen wir schließlich noch auf Paulus hin: Er
hat ein Christentum gelehrt, das zutiefst bestimmt war vom Wirken des Heiligen
Geistes. Paulus sagt aber eben nicht nur:
„Lasst euch vom Geist leiten, dann
werdet ihr nicht das Begehren des Fleisches erfüllen“ (Gal 5,16), sondern
dieser selbe Paulus gibt der Gemeinde auch eine Fülle von
Einzelgeboten und beruft sich, wo er kann, auf ein überliefertes
Wort Jesu, des Herrn. Für Paulus besteht kein Widerspruch darin, sich vom
Heiligen Geiste leiten zu lassen und
die Gebote Gottes ernst zu nehmen. So. sagt er zum Beispiel Röm 8,4, Christus
sei gekommen, damit die Forderung des
Gesetzes erfüllt werde bei uns, die wir nach dem Geist leben. Nach Paulus sagt uns
der Heilige Geist also nicht: ,,das sind alte Gebote, ihr könnt sie
vergessen!“, sondern; ,,Was in diesen
alten Geboten gemeint war als bleibender Gotteswille, das gilt, das sollt ihr tun, und es ist bedrohlich für euer Christsein, dies zu ignorieren“.

 

Ein bekannter Exeget (H. D. Wendland)
sagt: ,,Bei Paulus gibt es keinen Gegensatz zwischen Gebot und Geist. Der Geist
ist eins mit dem Willen Gottes und macht diesen offenbar … Geist ohne Gebot
musste geradezu zur moralischen Anarchie führen.“ Wir wissen ja, dass
schon Paulus gegen die Einstellung vorgehen musste, die unter Berufung auf den
Heiligen Geist behauptete: ,,Alles ist mir erlaubt!“

 

Mit all dem ist nicht gesagt, dass wir
seufzen müssten unter dem Druck strenger und uns eigentlich
überfordernder Gebote. Vielmehr
können wir in der Kraft des Heiligen Geistes wirklich das tun, was Gottvon uns will!

 

2.   Grundaussagen Jesu zur menschlichen Geschlechtlichkeit

Gottes Ja zur menschlichen Zweigeschlechtlichkeit

Nach Mt 19,4 antwortet Jesus den
Pharisäern: ,,Habt ihr nicht
gelesen, dass der Schöpfer die Menschen am Anfang als Mann und als Frau
geschaffen hat?“ Dies ist eine grundlegende Aussage. Überspitzt gesagt
bedeutet sie:
Den Menschen gibt es nicht!
Es gibt nur den Menschen in der männlichen und den Menschen in der weiblichen Ausprägung. Man trifft
immer wieder  Menschen, die nicht Ja
gesagt haben zu ihrer Geschlechtlichkeit. Sie können nicht Ja dazu sagen, dass
sie Mann sind, sie können nicht Ja dazu sagen, dass sie Frau, dass sie Mädchen
sind. Seelsorger und Therapeuten haben oft zu tun mit Menschen, die ihr Geschlecht
noch nicht angenommen haben. Dabei spielt die frühkindliche Prägung eine große
Rolle. Manche Mütter lassen ihrer kleinen Tochter gegenüber immer wieder vorwurfsvoll durchblicken:
Eigentlich solltest du ja ein Junge sein, aber nun können wir es auch nicht ändern, dass du nur ein
Mädchen bist! Mancher Vater sagt: Nun habe ich keinen Sohn in meiner Familie!
Dies muss bei dem Mädchen eine Wunde schlagen, die vielleicht nie wieder heilt. In seinem tiefsten
Innersten setzt sich das Gefühl fest: Ich dürfte gar nicht da sein, ich müsste
eigentlich ein Junge sein!

Halten wir also fest: Wir sind Männer
und Frauen durch Gottes Schöpfungwillen, und wir sind dies vom Kopf bis zu den
Zehen. Eine Frau ist wirklich etwas
total anderes als ein Mann, in der Ehe, vor der Ehe,
nach der Ehe. Und ein Mann ist etwas total anderes als eine Frau, in der Ehe,
vor der Ehe, nach der Ehe. Diese Besonderheit, dass wir Mann und Frau sind,
bestimmt alle unsere Lebensbereiche. Diese Besonderheit ist nicht nur eine Frage der Körpergestalt, sondern
ist eine Prägung unseres ganzen Personseins. Wir sind männlich und weiblich nicht nur in unserem Leib, sondern auch in der Eigenart unseres seelischen
Erlebens, auch in der Eigenart
unserer geistigen Welt.

Ich meine jetzt hier nicht die alten Klischees für die
Frau: Kinder, Küche, Kirche. Auch nicht das alte Klischee vom Mann, der „hinaus
muss ins feindliche Leben“. Es
gibt eine leidvolle Geschichte der
Frauenemanzipation, und man muss schon sehr dumm und lieblos sein, wenn man
darüber Witze macht. Wir Männer haben die
Frauen wissentlich-unwissentlich über Jahrtausende verletzt – das verliert sich
nicht von selbst.
Dennoch müssen wir festhalten an einer durchgehenden
Bestimmtheit durch unser Mann- und Frausein. Jesus sagt ein volles Ja zu dieser
unserer geschlechtlichen Bestimmtheit. Wichtig ist an dieser Stelle, dass wir
unterscheiden zwischen Geschlechtlichkeit und
Sexualität. Diese stellt den körperlichen Anteil unserer
Geschlechtlichkeit dar, deren körperliche Dimension. Während wir unsere Geschlechtlichkeit nie
abstreifen können und sie ständig zum Ausdruck bringen, besteht durchaus keine
Notwendigkeit und erst recht kein Zwang, unsere Sexualität auszuleben. Dies wird
deutlich bei Jesus selbst und auch bei vielen „Heiligen“ in der Geschichte des
Glaubens, die ehelos und ohne praktizierte Sexualität lebten. Wir können mit
unserer Sexualität in jener Freiheit umgehen, die dem Menschen eigentümlich ist.
Jesus sagt Ja zur Zweigeschlechtlichkeit, also zur Geschlechtlichkeit überhaupt.
Aber er redet nicht von einem Zwang, dem man nicht entrinnen könne, von einem
„Sexualtrieb“, den man entweder nur ausleben oder totschlagen kann (mit
den verheerenden psychologischen Folgen, die solch ein „Totschlagen“ hat), ohne
eine dritte Möglichkeit zu besitzen. Von dieser dritten Möglichkeit spricht ja
Jesus deutlich bei Mt 19.12: Es gibt einige, die um des Himmelreichs willen
ehelos leben.

 

Ehe als umfassende Lebensgemeinschaft

 

Ich möchte die zentralen Aussagen Jesu über die Ehe im
folgenden Satz zusammenfassen:
Jesus deutet die Ehe als eine totale, lebenslange
Gemeinschaft eines Mannes und einer Frau.

Jesus war keineswegs der erste, der
über die Ehe gesprochen hat. Schon das Alte Testament und auch die jüdischen
Lehrer zurzeit Jesu haben gelehrt, was und wie Ehe sein soll. Jesus aber gibt
nur seine – und damit Gottes! – Deutung des Wesens der Ehe: Sie ist eine
totale Lebensgemeinschaft! Das ganze Menschsein eines Mannes ist engagiert in der Ehe,
das
ganze  Menschsein einer Frau ist


engagiert in der Ehe. Dies
ist mit dem biblischen Satz gemeint: Die zwei werden
ein Fleisch sein (Mt 19,5). Das Wort
„Fleisch“
meint in der Sprache
des Alten Testamentes nicht
etwa den Leib im Unterschied
zur „Seele“, sondern an vielen Stellen den
ganzen Menschen, insofern er von Gott abhängig ist und wieder zu Gott zurückkehrt.
Der Ausdruck
„ein Fleisch“ meint deshalb
nicht lediglich die menschliche
Sexualität, nicht nur den Vorgang
der Zeugung, auch nicht nur, dass Mann und Frau in ihrem Kind weiterleben. Vielmehr meint der
Ausdruck:
Aus
zwei Personen wird eine Person!
Dies bedeutet:
Die totale Lebensgemeinschaft in der Ehe ist mehr als die Summe und
Zusammenzählung zweier Leben. In diesem Falle
 
gilt wirklich: eins und eins ist
(wird) eins!

Wenn Jesus von dem „einen Fleisch“
spricht, zu dem Mann und Frau werden, dann meint er damit nicht nur
die Einswerdung im sexuellen Akt. Er meint vielmehr, dass die beiden
auch eins werden
dürfen und sollen in ihrer Zuwendung, in ihrem Interesse
füreinander in der Liebe, die sie sich schenken.

Die Ehe ist nicht nur
eine totale, sondern auch eine
lebenslange Gemeinschaft.
Jesus anerkennt nur
einen Trennungsfaktor,
nämlich den Tod. Wenn ein Ehegatte stirbt, dann ist die Ehe durch den Tod
aufgelöst. „Was Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19,6).

Schließlich betont Jesus, dass die Ehe
die Gemeinschaft zwischen
einem Mann und einer Frau ist. Er betont somit die Einehe. Im Alten Testament finden wir an dieser Stelle
eine gewisse Offenheit. Die Mehrehe
wurde nicht abgelehnt. Jesus aber
erklärt: Gottes ursprünglicher und bleibender Wille ist die Einehe (Mt 19,8).
Damit hat Jesus uns eine Tiefe des Verständnisses für die Ehe eröffnet, die nicht überboten werden kann. Eine Frau wird sich am tiefsten geachtet und angenommen fühlen,
wenn sie in Gemeinschaft lebt mit
einem Mann. Sie ist eben doch
in bestimmter Weise herabgewürdigt, wenn sie diese Zuwendung teilen muss mit
drei, fünf, zehn, hundert anderen
Frauen.

 

Jesu Gebot
als Schutz der Ehe

 

Jesus schützt uns und stabilisiert die Ehe, indem
er die Ehescheidung und den Ehebruch schon in seinen feinsten Anfängen
verurteilt. Jesus erklärt: ,,Ich sage euch: wer seine Frau entlässt und eine
andere heiratet, begeht Ehebruch!“ (Mt
19,9).

Bei Matthäus findet sich ein Zusatz:
,,Es sei denn wegen Hurerei“ (19,9; sprachlich etwas anders 5,32). Es ist
umstritten, ob Matthäus diesen Zusatz im Sinne
Jesu gemacht oder ob Jesus selbst so gesprochen hat. Dies ist eine Spezialfrage der Exegeten. Für uns ist wichtig:
Durch Hurerei ist die Ehe bereits getrennt. Insofern liegt die scheinbare
Aufweichung in dem Zusatz jedenfalls auf der Linie der Auffassung Jesu: Er
untersagt die Ehescheidung, und er untersagt auch den Ehebruch (Mk 10,10-12; Lk 16,18).

Für Jesus beginnt der Ehebruch mit dem
begehrlichen
Blick (Mt 5,28). Nun hören
wir ja mit Recht aus diesen Worten
eine gewisse Härte heraus. Darf ich einmal die andere Seite betonen: Jesus
schützt und stabilisiert die Ehe, indem er so spricht; hinter seiner Härte verbirgt
sich eine tiefe Hilfe. Damals, zur Zeit Jesu,
gab es zwei Rabbinatsschulen, die Schule des Rabbi Schammai und die des Rabbi
Hillel, die unterschiedlich über Ehescheidungsgründe lehrten. Rabbi Schammai
vertrat eine strengere Auffassung. Er lehrte
seine Schüler, dass eine Ehescheidung nur dann akzeptiert werden könne,
wenn ein erwiesener Ehebruch vorliege. Damit hat er einer Stabilität der Ehe
das Wort geredet. Es ging damals um die Auslegung eines alttestamentlichen
Wortes: Wenn eine Frau das Wohlgefallen ihres Mannes nicht erlangt, weil er
etwas Widerwärtiges an ihr entdeckt, schreibe er ihr einen Scheidebrief (5 Mose
24, 1). Dieses „Widerwärtige“
war für Schammai erwiesener Ehebruch.

Die andere Schule, die des Rabbi
Hillel, war wesentlich laxer. Sie fasste diese Bestimmung ganz im Sinne der männlichen Selbstherrlichkeit
auf und sah das „Widerwärtige“ z. B. schon darin, dass die Frau eine
schlechte Suppe gekocht hatte. Damit war die Bahn frei für eine große
„Liberalität“ in der Eheauffassung, und es war den Männern, deren Rechte hier wieder einmal triumphierten, einfach
gemacht, ihre Frau loszuwerden.

In einer solchen Situation besteht
natürlich eine starke Unsicherheit für alle Ehefrauen, indirekt auch für den
Mann: Die Frau wird entwürdigt, wenn
der Mann sie leicht wegschicken kann
und nur noch darauf achten muss, dass er formalrechtlich korrekt verfährt, dass
also ein Scheidebrief ausgestellt wird.
Jesus sagt dagegen: ,,Ihr seid
zusammengefügt für ein ganzes Leben“.

Das gilt auch heute. Wenn ein Christ
verstanden hat, was Jesus hier meint, und aufhört, bei dem ersten Streit zu
sagen, leichtfertig oder trotzig: ,,Dann lass
ich mich eben scheiden“, – wenn er einmal versteht, dass Jesus ihm diese Hintertür nicht offen lässt, dann ist er gezwungen,
sich seiner Frau zuzuwenden, sich z. B. zu fragen, woher ein Missverständnis
rührt, und um den Bestand seiner Ehe zu kämpfen. Hier liegt ein Grund für mich als
Seelsorger, dass auch ich grundsätzlich um jede Ehe kämpfe.


Kann sein, dass ich den Kampf verliere. Kann sein, dass ich am Ende einer
Scheidung zustimmen muss, weil sie dann das kleinere Unheil ist, bevor die
Ehepartner mit Stuhlbeinen aufeinander losgehen.
Aber ich kämpfe um Ehen, weil ich weiß: Jesus
hat gesagt, die Ehe soll nicht geschieden
werden. Das bedeutet: Dies ist dein Platz, hier
bewähre dich! Halte die Spannung aus! Pack den Konfliktherd an, sprich
mit deinem Partner darüber. Sucht nach gemeinsamen Lösungen!

Und das andere: Wenn Jesus sagt:
,,Schon der begehrliche Blick, schon
das Einbrechen in eine fremde Ehe mit den Augen macht dich schuldig“,
weist er Menschen zurück auf ihre
eigene Ehe, und er schützt die der anderen. Zur
Verdeutlichung möchte ich sagen, dass Jesus nicht gelehrt hat: ,,Wenn du jemals
eine schöne Frau siehst und von ihrem Anblick begeistert bist, musst du ein
schlechtes Gewissen haben.“ Vielmehr ist das Wort für „Begehren“, das
hier gebraucht wird, gemeint im Sinne
der Gebotsreihe 2 Mose 20,17. Es bedeutet: ,,etwas durch unrechte
Machenschaften in den eigenen Besitz bringen“. Hier ist also ein Begehren, ein begehrlicher Blick gemeint, der
darauf abzielt. die Frau eines anderen an sich zu ziehen, eine Form des Flirts,
der ausdrückt: ,,Komm doch zu mir!“, nicht die Freude an der Schönheit der
Frau. Und natürlich ist hier auch nicht verboten worden, dass ein junger Mann
ein unverheiratetes Mädchen sieht und sich vornimmt: Die will ich zur Frau haben! Vielmehr ist hier z. B. gemeint, dass derselbe junge
Mann eine verheiratete Frau „ansieht“ in der Absicht, sie aus ihrer Ehe
herauszulösen.

Damit wird noch einmal der Grundsatz deutlich: Du sollst nicht einbrechen in fremde
Ehen; du sollst die Ehe der anderen schützen und deine Ehe achten! Wir halten fest: Jesus stabilisiert die Ehe,
indem  er zwei Menschen ganz aneinander
verweist, damit sie die Möglichkeit gewinnen, ihre ganze Liebesenergie einem
Partner zu schenken und ihn damit zu beglücken, um umgekehrt an Unstimmigkeiten
oder Problemen zu wachsen und zu reifen.

 

Die eigentliche
Gefahrenquelle: das menschliche Herz

 

Jesus deckt als eigentliche
Gefahrenquelle für das Miteinander von Mann und Frau das unerlöste  menschliche Herz auf. Er sagt Mt 19,8: ,,Moses
hat euch die Scheidung (nicht etwa: geboten, sondern) zugestanden. um eurer
Herzenshärtigkeit willen“. So steht es auch Mk 10,5. Damit ist uns eine
wirklich tiefe Deutung ehelicher Probleme gegeben.

Jesus stimmt also nicht zu, wenn gesagt
wird: ,,Hier haben wir es zu tun mit der
Unverträglichkeit der Charaktere;“ oder: ,,Dieser Partner war mir eben nicht von Gott zugedacht.“ Ich hörte
einmal einen älteren Mann, der schon zum zweiten Mal verheiratet war, sagen:
,,Mit meiner ersten Frau hat mich der Teufel zusammengefügt; mit meiner zweiten
Frau hat mich Gott zusammengeführt.“ So hatte er das Problem seiner
zweiten Ehe ganz elegant gelöst. Jesus sagt nicht entschuldigend: die Verhältnisse
sind schuld, wenn Ehen auseinandergehen oder wenn sie geschieden werden müssen;
sondern er sagt: „Euer hartes, unerlöstes Herz, eure gottlose Wesensmitte ist
daran schuld.“ Der Störfaktor, die eigentliche Gefahrenquelle für die Ehe
ich würde hinzufügen, auch für das
sonstige Leben mit der Geschlechtlichkeit und speziell mit der Sexualität – ist
unser unerlöstes Herz. Darum geht es für das Neue Testament um
geistliche Erneuerung und nicht um
eine „menschenfreundlichere“ Moral der Ehe und der Sexualität.

Jesus verdeutlicht in diesem Wort Mt 19,8/Mk 10,5 noch nicht, wie es
zur Erneuerung des Herzens kommt; aber er weist die Richtung. Umgekehrt: Wo der
Heilige Geist sein erneuerndes Werk nicht tun kann, haben wir immer wieder mit Ehebruch und Ehescheidung
zu rechnen!

 

Ehelosigkeit  als Freiheit für Gott

 

Jesus lehrt uns, die Ehe als eine
Lebensordnung des Schöpfers, er lehrt uns allerdings nicht, sie als ein
absolutes Ideal zu verstehen. So sehr Jesus im Verheiratetsein Gottes
Schöpferwillen am Werk sieht, so wenig gibt es für ihn eine
Forderung, die eheliches
Leben von jedem verlangte.

Jesus spricht auch von der Gnade der
Ehelosigkeit. Mt 19,12 steht zu diesem Thema ein etwas rätselhaftes Wort:
,,Manche sind von Geburt an zu ehelichem Umgang unfähig, andere sind von
Menschen dazu unfähig gemacht worden (Jesus denkt an die Kastration), und
wieder andere haben sich selbst dazu unfähig gemacht um des Himmelreiches
willen. Wer es fassen  kann, der fasse
es.“  Hier haben wir es mit einer
der zahlreichen Stellen zu tun, an denen Jesus in einer unerhört drastischen Sprache von einem geistlichen
Sachverhalt redet. Er spricht über eine Art geistliche Kastration. Er lehrt
also nicht, dass ein Christ Hand an sich legen, sich selber verstümmeln soll, sondern er meint, dass
jemand freiwillig,
weil er so geführt wird, die
Gnade der Ehelosigkeit auf sich nimmt, um ganz frei zu sein für die Belange des Himmelreiches.

 

Das
bleibende  Neue in Jesu Auffassung

 

Wenn wir von dem Punkt aus, den wir
jetzt erreicht haben, noch einmal einen Rückblick halten, so wird deutlich: Bei
Jesus ist etwas Bahnbrechendes geschehen. Das muss man aus dem Abstand von
zweitausend Jahren so sagen, und zwar umso mehr, als man unsere derzeitige Situation im Blick hat.
Jesus spricht hier als
Willensoffenbarer Gottes.
Er
redet also nicht wie ein Weisheitslehrer. Er sagt nicht: ,,Macht das so, wie ich euch rate: das bewährt sich“; er geht nicht aus von einem Vergleich, indem er zunächst verschiedene Formen nebeneinander stellt,
in denen geschlechtliches Leben sich abspielen oder Ehe sich gestalten kann und
dann erklärt: dies ist die beste Form. Er argumentiert nicht pragmatisch von
der
Nützlichkeit, sondern von dem unbedingten, ursprünglichen, also
bleibenden
Willen
des Schöpfers
her. Ich halte dies für sehr wichtig. Das heißt: von
allen möglichen Formen, in denen Männer und Frauen als Geschlechtswesen
zusammenleben können (die Geschichte bezeugt uns hier eine große Variationsbreite von Gestaltungen), findet nur
eine Jesu – das heißt Gottes Zustimmung,
nämlich jene Form der Ehe, die ich versucht
habe zu beschreiben. Jesus hat ein klar umrissenes Eheverständnis für seine
Gemeinde
verbindlich
gemacht. Können wir das
akzeptieren, mit den Folgerungen,
die sich daraus ergeben?

Aus heutiger Sicht fällt auf, dass es Jesus nicht allein auf die rechte
Haltung ankommt. Er sagt also nicht: ,,Ich habe euch doch erklärt, dass die
Liebe das oberste Gebot ist. Solange du, Mann, eine Frau wirklich liebst, bleib
mit ihr zusammen. Wenn du dies nicht
mehr willst oder kannst, ist die Grundlage für das Miteinander entzogen, dann löse die Beziehung auf“. Jesus geht
also nicht von der Gesinnung, auch
nicht vom Affekt, sondern, so seltsam sich das heute anhört, von einer
Institution aus, von der Ehe nämlich, die Mann und Frau übergreift, in der sie sich wiederfinden, in der sie Halt und Geborgenheit bekommen
auch gegenüber ihren eigenen Impulsen, die sie heraus drängen möchten. Jesus lehrt Ehe verstehen als eine
Schöpfungsordnung, nicht nur als einen persönlichen Entschluss, mit dem ich
mich zu einem Menschen bekennen und mich dann, wenn das nicht mehr möglich ist,
von ihm lösen könnte. Auch Motive
wie „Partnerschaft“ oder „Ernstnehmen des anderen“ sind hier im Ansatz nicht betont.

Jesus meint natürlich nicht, dass man,
wenn man verheiratet sei, innerhalb der Ehe tun könne, was man wolle. Dagegen
spricht eindeutig das Liebesgebot. Dieses Haus der Ehe, wenn ich einmal ein Bild gebrauchen darf, muss
gewärmt werden, es braucht Wohnlichkeit, Bilder, Blumen. Aber was machen wir,
wenn wir Tapeten und Stühle und Blumen
und Bilder haben, aber kein Haus? Die Ehe als Schöpfungsordnung, so wie Jesus
sie lehrt, ist ein Ort des Schutzes gegen menschliche Sündhaftigkeit,
gegen den Wunsch nach Abwechslung und vieles andere. Selbst der Ausdruck: ,,was
Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht trennen“, ist nicht im
modernen Sinn gemeint. Heute wird dieser Satz oft so verstanden: „Diese Ehe ist
einmal im Himmel beschlossen worden. Ich habe endlich den Partner entdeckt, den
Gott mir schon immer zugedacht hatte.
Und der ist nun der Richtige.“ Jesus hat das so nicht gemeint. Er hat
sagen wollen: ,,Wenn du in einer gültigen Ehe lebst,
dann darfst du und sollst du gewiss sein, dass du durch Gott mit dem Partner zusammengefügt bist
aufgrund der Tatsache, dass ihr verheiratet seid.“

Noch einmal: es geht hier auch um Gesinnung, um Zuwendung, um diese personalen
Akte, aber die Maßstäbe werden
zunächst gesetzt von einer Schöpfungsordnung her! Diese Sicht Jesu ist für das ganze Neue
Testament bestimmend geworden. Ich füge hinzu: auch für die spätere
Christenheit! Man kann ziemlich genau sagen, bis zu welchem Zeitpunkt: Etwa um
das Jahr 1960 ist – zumindest in Deutschland – ein Einbruch passiert, nach
meiner Deutung am stärksten angestoßen durch ein neues Sexualverhalten, das mit
der Verfügbarkeit der „Pille“ zusammenhing. Man hat in der Kirche zunehmend
nicht mehr den Mut gehabt, die biblische Sicht theologisch zu vertreten, auch
in der Seelsorge nicht. Nur sollten wir nicht behaupten, Jesus habe sich unklar
ausgedrückt.

 

3.   
Die
paulinische Sexualethik als Kommentar zu Jesu Aussagen

 

Ich möchte nun anhand der paulinischen Aussagen zeigen
– der Apostel hat sich am breitesten im Neuen Testament mit Fragen des geschlechtlichen Miteinanders befasst -, wie
Paulus hier zum Interpreten Jesu
geworden ist, zum Kommentator seines Herrn nach dessen Auferstehung. Dabei


wiederholt Paulus Aussagen, die
Jesus schon gemacht hatte. Er wiederholt sie zum Teil unter ausdrücklicher
Berufung auf Jesus. Ich nenne vier Punkte.

 

Paulus  wiederholt 
Jesu Aussagen

 

Erste Beobachtung: Die Ehe ist für
Paulus wie für Jesus eine
totale, die Sexualität
einschließende Lebensgemeinschaft. Der Apostel
schreibt 1Kor 7,3-5: ,,Der Mann soll seine
Frau nicht vernachlässigen, und die Frau soll sich ihrem Mann nicht
versagen. Die Frau verfügt nicht
über ihren Körper, sondern der Mann. Ebenso verfügt der Mann nicht über seinen
Körper, sondern die Frau. Keiner soll sich dem anderen entziehen – höchstens
wenn ihr euch einig werdet, eine Zeitlang auf
den ehelichen Verkehr zu verzichten, um ungestört beten zu können. Aber danach
sollt ihr wieder zusammenkommen; sonst verführt euch der Satan, weil der Trieb
in euch mächtig ist.“

Paulus hat hier ein ungebrochenes Ja zur sexuellen Seite der ehelichen
Lebensgemeinschaft ausgesprochen; er macht es geradezu zu einem Gebot, dass
sich der Mann seiner Frau und die Frau sich ihrem
Mann nicht entziehen; dahinter steht offenbar der neutestamentliche
Grundsatz: Ihr sollt nicht an euch
selbst denken, sondern an die anderen (1Kor 10,24). Hier ist, ohne dass es in Worten Ausdruck findet, eine von Liebe,
von gegenseitiger Zuwendung bestimmte sexuelle Ehegemeinschaft gemeint. Und was
ganz erstaunlich ist für Paulus, der sonst ja die Frauen ermahnt, sich ihren
Männern unterzuordnen: für den sexuellen Bereich lehrt er keine Unterordnung, sondern an dieser Stelle können
sowohl der Mann als auch die
Frau Initiative und Führung ergreifen in wechselseitiger Unterordnung.

Zweite Beobachtung: Diese eheliche
Lebensgemeinschaft ist
unauflöslich. Das sagt Paulus
in den Versen 10 und 11: ,,Für die
Verheirateten habe ich eine verbindliche Vorschrift. Sie stammt nicht von mir,
sondern von Christus, dem Herrn: Eine Frau
darf sich nicht von ihrem Mann trennen. Tut sie es doch, so
soll sie unverheiratet bleiben oder sich wieder mit ihrem Mann aussöhnen. Ebenso wenig darf ein Mann seine Frau
fortschicken.“ Nun folgt in den
Versen 12-16 noch ein Zusatz, der den Sonderfall anspricht, dass der
ungläubige, der heidnische Teil auf einer Ehescheidung besteht. Für diesen Fall
soll der Christ nicht seine Ehe einfordern. Das heißt, der Grundsatz der
Unauflöslichkeit ist hier voll durchgehalten, und Paulus beruft sich dabei ausdrücklich
nicht auf eine theologische Meinung, auch nicht auf den Heiligen Geist, der ihm
das eingegeben habe, sondern auf Jesus Christus, den Herrn, das heißt offenbar,
auf Worte des irdischen Jesus. Er zieht dabei eine vorgegebene Linie aus. Jesus hatte ja für Juden
gesprochen und die Möglichkeit noch gar nicht erwogen, dass auch die Frau die Scheidung beantragen kann. Paulus schreibt
hier an Griechen
und muss so auch diese
Möglichkeit bedenken, aber er
lehnt sie ab mit der Autorität
seines Herrn.

Dritte Beobachtung:
Ehebruch ist bei Paulus wie bei Jesus
gegen Gottes Willen. Ich
nenne nur die Stellen Röm 2,22; 13,9; 1Kor
6,9.

Vierte Beobachtung: Ehelosigkeit um des
Reiches Gottes willen ist für Paulus wie für Jesus eine Gnadengabe (1Kor 7,7),
d. h. sie hat einen hohen Wert. Er würde sich wünschen, dass viele nicht heirateten. Aber er begründet das nicht etwa mit einer geistlichen
Minderwertigkeit des Sexuellen, sondern er sagt – völlig mit Recht -, dass ein
verheirateter Mann in ganz besonderer
Weise, auch zeitlich und kräftemäßig, engagiert ist für seine Frau, für seine
Familie, und dass ein Unverheirateter in einer
andersartigen Freiheit für seinen Herrn lebt. Er selbst hat ein eheloses Leben
geführt wie sein Herr Jesus Christus, und viele haben es nach ihm getan. Ich
meine, gerade als evangelischer Christ sagen zu müssen, dass wir Protestanten
häufig kritische, manchmal leider auch ironische Bemerkungen über ehelos lebende Menschen von uns gegeben, aber die
tiefe Dynamik, die hier freigesetzt
ist für Gott, vielfach gar nicht gewürdigt haben. Das war nicht gut.

 

Paulus
interpretiert Jesu Aussagen

 

Paulus geht nun noch weiter. Er schließt sich
nicht nur an Jesus an, sondern er führt das, was Jesus grundgelegt hat, auch an
bestimmten Punkten weiter, das heißt, er zieht Linien aus. Paulus bezeichnet
alle nicht-ehelichen
Sexualbeziehungen als „Unzucht“
(porneia). Überall da, wo wir dieses
Wort finden bei Paulus, liegt der
Maßstab in der Nichtehelichkeit eines sexuellen Verhaltens. Das lässt sich
anhand der Texte ganz eindeutig erweisen.
Paulus könnte also nicht innereheliche Lieblosigkeiten auf sexuellem Gebiet als „Unzucht“
bezeichnen, sondern er gebraucht dieses Wort ganz präzise und meint damit
nicht-eheliche Sexualbeziehungen. Wenn er sagt (1Kor 6,18): ,,Flieht die Unzucht“, so lehnt er nicht nur den Verkehr mit der Dirne ab,
also den bezahlten Verkehr, sondern er stellt jeweils der Unzucht die Einehe
gegenüber. 
Im christlichen 
Sinne gehört der Geschlechtsakt  allein  und ausschließlich  in die Ehe

 

 

6


(1Kor
7,1; 1Thess 4,3b und 4a). Ich bin mir bewusst, dass dies für manche die
schwierigste Stelle des ganzen Referates ist.

Es ist nicht sachgemäß, dass wir uns
an der Härte dieses Wortes „Unzucht“ stoßen und dann erklären: „Kann man
denn die innige Liebe zwischen zwei
Achtzehnjährigen, die für diese beiden auch den Geschlechtsverkehr einschließt,
als ‚Unzucht‘ bezeichnen? Was für ein schmutziges Wort für eine. so schöne und
natürliche Sache!“ Hier geht es um
Maßstäbe! „Unzucht“ bezeichnet das von Gott nicht Gewollte. Damit ist völlig klar, dass auch voreheliche
sexuelle Kontakte nicht gottgewollt sind. Paulus hält seinen Grundsatz ganz folgerichtig durch. Er wendet ihn an a. gegenüber den Unverheirateten
und Witwen und b. gegenüber den Verlobten.

a. Dafür wollen wir zunächst 1Kor 7,8-9 heranziehen: ,,Den Unverheirateten
und Witwen sage ich: Es ist am besten, wenn sie meinem Vorbild folgen und
allein bleiben. Aber wenn ihnen das
zu schwer fällt, sollen sie heiraten. Das ist besser, als wenn sie von
unbefriedigtem Verlangen verzehrt werden.“ Paulus sagt also nicht: dann
sollen sie sich, wenigstens kurzfristig, ein Verhältnis gestatten, sie sollen
aufgrund ihrer Sehnsucht nach Erfüllung ruhig einmal eine sexuelle Beziehung
eingehen, auch wenn sie wissen, dass sie nicht auf Dauer sein kann. Vielmehr
kennt er auch hier nur die
Alternative: Heiraten, dann sexuelle Gemeinschaft; oder: unverheiratet bleiben,
dann keine sexuelle Gemeinschaft.

b. Dieser Grundsatz wird nun aber auch
angewendet gegenüber Verlobten (1Kor 7,36-38). ,,Wenn nun einer meint, er
begehe ein Unrecht an seiner Braut, wenn er sie nicht heiratet, und wenn sein
Verlangen nach ihr zu stark ist,
dann sollen sie ruhig heiraten. Es ist keine Sünde. Wer aber innerlich so fest
ist, dass er nicht vom Verlangen bedrängt wird und sich ganz in der Gewalt hat,
der soll sich nicht von dem Entschluss abbringen lassen, seine Braut nicht zu
berühren (also mit ihr Geschlechtsverkehr
zu haben). Wer seine Braut heiratet, handelt gut, aber wer nicht heiratet,
handelt noch besser.“ Zu diesem Vers muss ich einige Erklärungen geben.
Zunächst einmal zur Situation in Korinth: Diese Gemeinde lebte in einer starken
Nah-Erwartung des Endes. Sie rechnete damit, dass Jesus Christus bald
wiederkommen werde. Es gab in dieser
Gemeinde asketische Tendenzen. Verlobte fragten sich: ,,Ist es überhaupt
richtig, dass wir noch heiraten? Vielleicht kommt der Herr inzwischen wieder!“
Hier lag also eine Anfrage vor. Und Paulus antwortet: ,,Nein, heiraten ist
durchaus Gottes Wille. Wenn ihr allerdings nicht heiraten wollt und nicht dazu
gedrängt werdet, wenn ihr frei seid für Gott, halte ich das für den besseren Weg.“

Ich
habe nun einfach behauptet, es gehe hier um die Beziehungen von Verlobten
untereinander. Die
„Gute Nachricht“, der die meisten
neutestamentlichen Zitate des Referates entnommen sind, übersetzt diese Stelle in diesem Sinne. Sie ist lange Zeit anders
gedeutet worden; manche haben gemeint, hier handele es sich um eine Anweisung
an einen Vater, der eine verlobte Tochter hat und nun die Zustimmung geben
solle, dass sie heiratet; andere wieder haben gemeint, hier gehe es um „geistliche Ehen“. Am häufigsten wird heute
die Auffassung vertreten, dass hier von
Verlobten die Rede ist.(In diesem Sinne übersetzt neben der
Guten Nachricht auch die Einheitsübersetzung.) Für diesen Fall empfiehlt der Apostel einen letzten Schritt,
nämlich in die Ehe hinein,
wenn der verlobte Mann keine Macht mehr hat über sein Verlangen. Paulus
erklärt also nicht: „Ihr seid doch verlobt, natürlich könnt ihr ‚im Notfall‘ auch sexuell miteinander
verkehren“, sondern er sagt: ,,Wenn eure
sexuelle Dynamik euch zu stark wird, dann tut mit Freude und getrost den
Schritt in die Ehe hinein.“ Auch von daher ist ganz deutlich, dass
Geschlechtsverkehr unter Verlobten von der Bibel her nicht legitimiert, sondern zurückgewiesen wird.

Ich
meine, dass, wenn wir die Grundsätze
verstanden haben, von denen her im Neuen Testament gedacht und argumentiert,
gelehrt und ermahnt wird, wir dann auch bestimmte Konsequenzen ohne Mühe selber
ziehen können.

 

4.   
Seelsorgerliches
Schlusswort

 

Bei diesem brisanten und oft leidvollen
Thema scheinen mir abschließend folgende Gesichtspunkte wichtig zu sein.

   
Erstens: wenn wir auch auf dem geschlechtlichen Sektor unseres Lebens
aus der Kraft des Heiligen Geistes leben wollen, ist es zuerst wichtig, unsere
Autonomie über dieses Gebiet preiszugeben und Gott zu bekennen: „Herr, ich will,
was
du willst. Ich möchte nicht mehr auf meinen Wünschen
bestehen in der Hoffnung, dass du sie bestätigst. Ich bin auch an dieser Stelle
bereit, Schritte des Gehorsams zu tun.“

Zweitens: Wir erleben dabei, dass Jesu
Weisungen unbedingt, kompromisslos, ja hart sind, und dass ihr Ernstnehmen uns
auch einmal wehtun kann. Dies soll offen ausgesprochen werden; es wäre
unrealistisch, derartige Erfahrungen zu verschweigen. Wir haben es mit einem hohen Maßstab zu tun. Jesus legt
Gottes Willen dar, er zeigt ihn in
heller Deutlichkeit. Niemand kann sagen, er wisse nicht, was gemeint sei.

       Drittens: Dies bedeutet auch, dass wir schuldig werden. Wer hier schuldlos
zu sein glaubt, möge den
ersten Stein werfen;
er wird auf ihn zurückfallen.
Es geht also nicht an, zu behaupten: ,,Hier ist ein klares, deutliches Ideal,
das jeder erfüllen kann; warum habt ihr es
nicht längst erreicht? Wer es nicht auf Anhieb schafft, den schließen wir
aus.“ Ein solches Denken stände
in unüberbietbarem Gegensatz zu Jesus und zum Neuen Testament, wo von der
vergebenden Gnade Gottes her gelebt wird.

Andererseits ist mir folgendes wichtig:
Wenn wir die Maßstäbe, wie es heute oft geschieht, so heruntersetzen, dass
jeder das tun kann, was er immer schon wollte, wird es sinnlos, von Schuld zu
sprechen. Als schuldig können sich Menschen nur dort erfahren. wo ein
Maßstab vorhanden ist, der deutlich gesagt und auch
anerkannt wurde. Wenn wir unsere Sexualität beliebig ausgestalten können, in
der sicheren Erwartung, dass Gott schon „Ja“ dazu sagt, dann sind wir
schon gerecht, dann brauchen wir nicht mehr durch Gnade gerecht gesprochen zu
werden.

Viertens: Daraus ergibt sich weiter, dass bei
diesem Thema immer auch Seelsorge angeboten werden muss. Denn selbst wenn die
Grunderkenntnis klar war, muss sie doch in das einzelne Leben transponiert, auf
die spezielle Situation bezogen werden, und das Ganze muss in einer Atmosphäre
des Angenommenseins, der Liebe, des Verstehens geschehen. Gerade bei jungen
Leuten ist der berühmte Zeigefinger absolut unangebracht. In der Seelsorge kann
man auch Leid, das hier erfahren
wurde, abladen: Es kann Heilung geschehen, innere
Heilung, und die ist sehr nötig! Vor allem kann Schuld bekannt und
Vergebung im Namen des gekreuzigten
Christus zugesprochen werden.

Fünftens: Wir strecken uns neu aus nach
der Kraft des Heiligen Geistes, wenn wir das Besprochene ernst nehmen, und sie
wird uns dann auch gegeben, manchmal in einem
Glaubensleben mit Rückschlägen. Es gibt Leute, die wiederholt, auch als
Christen, an dieser Stelle schuldig, auch grob schuldig werden. Aber wir erfahren, dass uns Kraft zufließt,
soweit wir uns dem Heiligen Geist öffnen,
mit unserer Geschlechtlichkeit so fertig
zu werden, dass wir sie beherrschen.

Schließlich: Wer hier Gehorsam lernt,
macht die Erfahrung großer Freiheit. Es ist einfach nicht wahr, dass, wer mit dem Wort und aus dem Geist Jesu lebt,
verklemmt, ein Verzichtleistler, ein Leisetreter   würde. Vielmehr führt ein solches Leben
zu einer Stabilisierung der körperlichen Gesundheit, der nervlichen
Belastbarkeit, der seelischen lntaktheit, und es vermittelt das Empfinden, Herr
zu sein im eigenen Haus. Jesus ist ein Mann von größter Freiheit gewesen. Der
Apostel Paulus, der offenbar ehelos gelebt hat, strahlt Vitalität aus, und
junge Paare, die etwa vor der Ehe Jesu Anweisungen wirklich auf sich beziehen,
erleben ihre Gemeinschaft tiefer als im umgekehrten Fall.

Auch hier geht es letzten Endes um die Frage des Vertrauens:
„Herr Jesus Christus, kann ich dir das abnehmen, dass du mein Leben nicht verarmen lässt, wenn ich dir
gehorche, sondern dass ich mehr Freude, mehr Kraft, tiefere Erfüllung erfahre,
und kann ich dir das glauben, dass
sich dann sogar andere Menschen an mir orientieren werden?“

 

Wolfram Kopfermann

Vortrag zuletzt
überarbeitet Oktober 2010

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Gepostet am

15. Juni 2016

1 Kommentar

  1. Marlene Berger

    Hallo Herr Kopfermann,
    sie schreiben viel biblisch Wahres über den Heiligen Geist aber, „…. Wir müssen scharf unterscheiden zwischen den biblisch klar bezeugten Manifestationen des Heiligen Geistes und den biblisch nicht bezeugten, aber möglichen körperlichen Begleitphänomenen seines Wirkens…“ Körperliche Begleitphänomene des Geistwirkens generell ausschließen zu wollen oder sie grundsätzlich zu verteufeln, ist eine Form der Angst vor dem Heiligen Geist, also Unglaube….“

    Herr Kopfermann, wenn körperliche Begleitphänomene unbiblisch sind, ist es kein Unglaube diese auszuschließen und dem Teufel zuzuschreiben, sondern Glaube und Gottesfurcht! Warum weichen sie in diesem Punkt vom Wort Gottes ab?

    Mit freundlichen Grüßen
    Marlene Berger

    Antworten

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